Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 417

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/417

Eine solche Sturmmacherei auf Probe und Kommando ist meines Erachtens der Größe der Partei und des Ernstes der Situation unwürdig und geeignet, die Partei in den Augen der Massen zu diskreditieren. Die begonnene Wahlrechts- und Demonstrationsbewegung war ferner eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Aufrüttelung, Aufklärung der indifferenten Massen, zur Gewinnung gegnerisch gesinnter Arbeiterkreise, wie es die regelmäßige Agitation nicht entfernt zu tun imstande ist. Die Partei hat mit dem absichtlichen Abbrechen der Bewegung diese glänzende Gelegenheit nach schönstem Anfang ungenutzt gelassen.

Vor allem kommen aber noch politische Gesichtspunkte in Betracht. Es ist höchst kurzsichtig, die Frage der preußischen Wahlreform von der Frage des Reichstagswahlrechtes mechanisch zu trennen und zu erklären: Aus Anlaß des preußischen Wahlrechtskampfes sollen unsere großen Kanonen nicht ins Feld rücken, die wollen wir aufsparen für den Fall, daß nach den Reichstagswahlen das Reichstagswahlrecht kassiert wird. Man muß sich geradezu die Augen vor den wirklichen Zusammenhängen absichtlich verschließen, um nicht einzusehen, daß in der heutigen Situation der Kampf um die preußische Wahlreform im Grunde genommen nichts anderes als Kampf um das Reichstagswahlrecht ist. Es ist klar, daß eine kräftige und siegreiche Kampagne für das preußische Wahlrecht der sicherste Weg ist, einen Schlag wider das Reichstagswahlrecht im voraus zu parieren. Die entschlossene und konsequente Fortsetzung des Wahlrechtskampfes wäre also zugleich eine Abwehraktion gegen Staatsstreichgelüste der Reaktion gewesen, eine Aktion, die alle Vorzüge der Offensive vor einer erzwungenen Defensive gehabt hätte.

Genosse Kautsky wendet nun ein – und das ist sein letzter Trumpf –, daß, da der Massenstreik doch, wie wir sehen, nicht ausgebrochen ist, dies am besten beweise, wie wenig er sich aus der Situation ergab und wie verfehlt mein Standpunkt war. „Aber schon die Tatsache“, sagt er, „daß man darüber diskutiert, zeigte, daß die Situation diese Reife noch nicht erlangt hat. Solange man noch streiten und untersuchen kann, ob der Massenstreik am Platze sei oder nicht, so lange ist das Proletariat als Gesamtmasse noch nicht von jenem Maße Erbitterung und Kraftgefühl erfüllt, die notwendig sind, soll sich der Massenstreik durchsetzen. Wäre die nötige Stimmung dafür im März vorhanden gewesen, dann mußte eine abmahnende Stimme wie die meine von einem Protest tosender Entrüstung erstickt werden.“[1] Genosse Kautsky zeigt hier ein interessantes Pendeln zwischen Extremen: Bald ist der Massenstreik ein sorgsam im geschlos-

Nächste Seite »



[1] K. Kautsky: Eine neue Strategie. In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 417.