Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 416

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Muster erfolgreicher Ermattungsstrategie“ war.[1] Ganz richtig. So sieht eben in der Praxis die „Ermattungsstrategie“ aus, die nach zwei kühnen Schritten sich „ermattet“ auf den Lorbeeren ausruht und die schmetternde Ouvertüre der „Volksbewegung größten Stils“ im kleinlauten Knurren der Vorbereitungen für die Reichstagswahlen auslaufen läßt.

Die Wahlrechtsbewegung ist also wieder auf ein, vielleicht zwei Jahre zum Stillstand gebracht, und zwar in einem so geschickt ausgewählten Moment, daß damit der Regierung der größte Dienst erwiesen worden ist, den man ihr überhaupt hätte erweisen können.

Die Zurückziehung der Wahlrechtsvorlage durch Bethmann Hollweg war der entscheidende Moment. Die Regierung befand sich gänzlich in der Klemme. Die parlamentarische Flickarbeit an der Wahlreform, der parlamentarische Kuhhandel war bankrott. Die Gegner standen am Ende ihres Lateins. Wollte man wirklich mit dem „Wahlrechtssturm“, mit der Losung: „Keine Ruhe in Preußen“, mit den großen Worten des preußischen Parteitags Ernst machen, dann war der Zusammenbruch der Regierungsvorlage der gegebene Moment, um sofort auf dieses Fiasko der parlamentarischen Aktion unter dem Rufe: Her mit einer neuen Vorlage! mit einem allgemeinen grandiosen Vorstoß, mit Straßendemonstrationen im ganzen Lande einzusetzen, die dann weiter zum Demonstrationsmassenstreik geführt und den Kampf mächtig vorwärtsgetrieben hätten. Genosse Kautsky, der mir gütigst vorschlägt, solche Einfälle, wie zum Beispiel das „bewaffnete“ Erscheinen im Treptower Park[2], als die Anwendung meiner „Strategie“ anzuerkennen, hat hier ein deutliches Beispiel dessen, was „meine Strategie“ in Wirklichkeit will. Nicht kindische Donquichotterien, wie die vom Genossen Kautsky mir zugemutete, sondern politisches Ausnutzen der Niederlagen des Gegners wie der eigenen Siege, was übrigens nicht sowohl die Erfindung irgendeiner „neuen Strategie“ als vielmehr das Abc jeder revolutionären, ja jeder ernsten Kampftaktik ist, das war die Aufgabe der Partei. Ich will damit nicht etwa die unbedingte Pflicht der Partei aussprechen, alle Montag und Donnerstag mal eine „revolutionäre Periode“ einzuleiten. Aber ich meine: Wenn die Partei eine Aktion beginnt, wenn sie einmal Sturm geläutet und ihre reisigen Völker auf den Plan gerufen hat, wenn sie von einer „Volksbewegung größten Stils“, vom Sturm „mit allen Mitteln“ gesprochen, dann darf sie nicht nach zwei Anläufen sich plötzlich hinter dem Ohr kratzen, gähnen und erklären: Es war nichts, für diesmal war’s nicht ernst gemeint, gehen wir nach Hause.

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[1] Siehe K. Kautsky: Eine neue Strategie. In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 419.

[2] Für den 6. März 1910 hatte die Berliner Sozialdemokratie zu einer Kampfaktion für das demokratische Wahlrecht im Treptower Park aufgerufen, die durch das Eingreifen der Polizei in den Tiergarten umgeleitet werden mußte. Trotz des polizeilichen Verbots vom 13. Februar 1910 gestaltete sich die Veranstaltung durch ihre mustergültige Organisation und Disziplin zu einer eindrucksvollen Kundgebung von etwa 150 000 Demonstranten.