Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 415

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übersehen, daß damit leider noch etwas anderes „mausetot“ geschlagen wurde: nämlich die Demonstrationen und mit diesen die Wahlrechtsbewegung selbst. Genosse Kautsky bewies gegen mich, daß eine Steigerung der Demonstrationen gar nicht nötig sei, daß kein Dilemma für die Partei bestehe, die Hauptsache sei, „vor allem die Straßendemonstration weiter zur Anwendung zu bringen, darin nicht zu erlahmen, sie im Gegenteil immer machtvoller zu gestalten“[1]. Nun, die Straßendemonstrationen haben seit April gänzlich aufgehört. Und zwar nicht etwa aus Mangel an Stimmung und Kampflust bei den Massen, sie sind nicht etwa an innerer Erschöpfung eingeschlafen. Nein, die Straßendemonstrationen sind einfach von den leitenden Parteiinstanzen abbestellt, entgegen den Anstrengungen und Versuchen der Parteigenossen in der Provinz, wie der 1. Mai gezeigt hat, wie noch im Mai die Demonstrationen in Braunschweig, in Breslau gezeigt haben, mit Vorbedacht abbestellt worden. Genau wie ich bereits in meiner ersten Replik in der „Neuen Zeit“ schrieb, hatte man schon Ende März – ohne den weiteren Gang der Ereignisse und die Situation abzuwarten – die Demonstration zum 10. April[2] unter dem Drucke der Stimmung in der Provinz mit dem Gefühl festgesetzt: Nun aber Schluß! Und Schluß ist gemacht worden. Keine Demonstrationen, nicht einmal Ver sammlungen befassen sich mehr mit der Wahlrechtsfrage, die sturmatmende Rubrik des Wahlrechtskampfes ist aus der Parteipresse verschwunden. Und als sicherstes Symptom, daß die Sache einstweilen vorbei und nicht mehr aktuell ist, kann der Umstand dienen, daß unser leitendes Zentralorgan sich mit der Taktik im Wahlrechtskampf zu befassen begann. „Die Volksbewegung größten Stils“[3] ist vorläufig nach Hause geschickt worden.

Was sagt Genosse Kautsky dazu? Wagt er, der gegen mich „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“[4] ins Treffen führte, auch nur ein Wort des leisesten Tadels gegen die „obersten Behörden“, die entgegen seiner Mahnung, ja „in Straßendemonstrationen nicht zu erlahmen“, der Demonstrationsbewegung einfach den Garaus gemacht haben? Im Gegenteil, hier ist Genosse Kautsky voller Bewunderung, er findet nur Worte der Begeisterung für „die jüngste Demonstrationskampagne“, die „ein <416> Muster erfolgreicher Ermattungsstrategie“ war.[5] Ganz richtig. So sieht eben in der Praxis die „Ermattungsstrategie“ aus, die nach zwei kühnen Schritten sich „ermattet“ auf den Lorbeeren ausruht und die schmetternde Ouvertüre der „Volksbewegung größten Stils“ im kleinlauten Knurren der Vorbereitungen für die Reichstagswahlen auslaufen läßt.

Die Wahlrechtsbewegung ist also wieder auf ein, vielleicht zwei Jahre zum Stillstand gebracht, und zwar in einem so geschickt ausgewählten Moment, daß damit der Regierung der größte Dienst erwiesen worden ist, den man ihr überhaupt hätte erweisen können.

Die Zurückziehung der Wahlrechtsvorlage durch Bethmann Hollweg war der entscheidende Moment. Die Regierung befand sich gänzlich in der Klemme. Die parlamentarische Flickarbeit an der Wahlreform, der parlamentarische Kuhhandel war bankrott. Die Gegner standen am Ende ihres Lateins. Wollte man wirklich mit dem „Wahlrechtssturm“, mit der Losung: „Keine Ruhe in Preußen“, mit den großen Worten des preußischen Parteitags Ernst machen, dann war der Zusammenbruch der Regierungsvorlage der gegebene Moment, um sofort auf dieses Fiasko der parlamentarischen Aktion unter dem Rufe: Her mit einer neuen Vorlage! mit einem allgemeinen grandiosen Vorstoß, mit Straßendemonstrationen im ganzen Lande einzusetzen, die dann weiter zum Demonstrationsmassenstreik geführt und den Kampf mächtig vorwärtsgetrieben hätten. Genosse Kautsky, der mir gütigst vorschlägt, solche Einfälle, wie zum Beispiel das „bewaffnete“ Erscheinen im Treptower Park[6], als die Anwendung meiner „Strategie“ anzuerkennen, hat hier ein deutliches Beispiel dessen, was „meine Strategie“ in Wirklichkeit will. Nicht kindische Donquichotterien, wie die vom Genossen Kautsky mir zugemutete, sondern politisches Ausnutzen der Niederlagen des Gegners wie der eigenen Siege, was übrigens nicht sowohl die Erfindung irgendeiner „neuen Strategie“ als vielmehr das Abc jeder revolutionären, ja jeder ernsten Kampftaktik ist, das war die Aufgabe der Partei. Ich will damit nicht etwa die unbedingte Pflicht der Partei aussprechen, alle Montag und Donnerstag mal eine „revolutionäre Periode“ einzuleiten. Aber ich meine: Wenn die Partei eine Aktion beginnt, wenn sie einmal Sturm geläutet und ihre reisigen Völker auf den Plan gerufen hat, wenn sie von einer „Volksbewegung größten Stils“, vom Sturm „mit allen Mitteln“ gesprochen, dann darf sie nicht nach zwei Anläufen sich plötzlich hinter dem Ohr kratzen, gähnen und erklären: Es war nichts, für diesmal war’s nicht ernst gemeint, gehen wir nach Hause.

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[1] K. Kautsky: Was nun? In: Neue Zeit vom 15. April 1910, S. 71. Im Original mit *.

[2] Am 10. April 1910 fanden in ganz Preußen und anderen Gebieten Deutschlands Massendemonstrationen für ein demokratisches Wahlrecht statt, nachdem sich die Arbeiter vielfach das Recht auf Versammlungen unter freiem Himmel wiedererkämpft hatten. (Traugott von Jagow, von 1909 bis 1916 Polizeipräsident in Berlin, hatte am 13. Februar 1910 zur Unterdrückung der Wahlrechtsbewegung folgende „Bekanntmachung“ veröffentlichen lassen: „Es wird das ‚Recht auf die Straße’ verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.“ [Sozialdemokratische Partei-Correspondenz, 5. Jg. 1910, Berlin o. J., S. 74.])

[3] Heinrich Ströbel zur Wahlrechtsfrage. In: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Preußens, abgehalten in Berlin vom 3. bis 5. Januar 1910, Berlin 1910, S. 224.

[4] „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ ist der Titel einer Komödie von Christian Dietrich Grabbe.

[5] Siehe K. Kautsky: Eine neue Strategie. In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 419.

[6] Für den 6. März 1910 hatte die Berliner Sozialdemokratie zu einer Kampfaktion für das demokratische Wahlrecht im Treptower Park aufgerufen, die durch das Eingreifen der Polizei in den Tiergarten umgeleitet werden mußte. Trotz des polizeilichen Verbots vom 13. Februar 1910 gestaltete sich die Veranstaltung durch ihre mustergültige Organisation und Disziplin zu einer eindrucksvollen Kundgebung von etwa 150 000 Demonstranten.