Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 391

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revolutionäres Bewußtsein, was diesen ihre große praktische Kraft gibt; es war der Verzicht auf die Revolution, die Beschränkung auf die Interessen des Augenblicks, die sogenannte Realpolitik, was jene zu einer Null in der wirklichen Politik machte.“[1]

Doch lassen wir vorläufig die russischen Verhältnisse beiseite und wenden uns der Schilderung zu, die Genosse Kautsky von den preußisch-deutschen Verhältnissen gibt. Merkwürdigerweise vernehmen wir auch hier Erstaunliches. Bis jetzt ist es zum Beispiel das Vorrecht des ostelbischen Junkertums gewesen, dem erhebenden Bewußtsein zu leben, daß Preußen „die stärkste Regierung der Gegenwart“ besitze. Wie hingegen die Sozialdemokratie dazu kommen sollte, eine Regierung in allem Ernst als „die stärkste“ anzuerkennen, die „nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter, schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus ist“, das zu begreifen fällt mir etwas schwer. Das läppische Jammerbild des Bethmann Hollwegschen „Kabinetts“, eine Regierung, die reaktionär bis auf die Knochen, dabei ohne Plan, ohne jede Richtlinie der Politik, mit Lakaien und Bürokraten statt Staatsmännern, mit einem schrullenhaften Zickzackkurs, im Innern der Spielball einer ordinären Junkerclique und eines frechen Intrigenspiels des höfischen Gesindels, in der auswärtigen Politik der Spielball eines unzurechnungsfähigen persönlichen Regiments, vor wenigen Jahren verächtlicher Stiefelputzer der „schwächsten Regierung der Welt“, des russischen Zarismus, gestützt auf eine Armee, die zu einem enormen Teil aus Sozialdemokraten besteht, mit dem stupidesten Drill, den infamsten Soldatenmißhandlungen der Welt – dies die „stärkste Regierung der Gegenwart“! Jedenfalls ein eigentümlicher Beitrag zur materialistischen Geschichtsauffassung, die bis jetzt die „Stärke“ einer Regierung nicht aus ihrer Rückständigkeit, Kulturfeindlichkeit, dem „Kadavergehorsam“ und dem Polizeigeist ableitete. Nebenbei hat Genosse Kautsky für diese „stärkste Regierung“ noch ein übriges getan und sie sogar mit dem „Glanz bald eines Jahrhunderts beständiger Siege über die stärksten Großmächte der Welt“ umwoben. In den Kriegervereinen hat man bis jetzt nur von dem „glorreichen Feldzug“ von 1870 gezehrt. Um sein „Jahrhundert“ des preußischen Glanzes zu konstruieren, hat Genosse Kautsky offenbar auch schon die Schlacht bei Jena mitgenommen sowie den Hunnenfeldzug nach China[2] mit unserem Wal

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[1] Karl Kautsky: Die Soziale Revolution. Teil I: Sozialreform und soziale Revolution, zweite, durchgesehene und vermehrte Auflage, Berlin 1907, S. 59 u. 63.

[2] 1899 war in Nordchina der Volksaufstand der Ihotuan ausgebrochen, der 1900 durch die vereinigten Armeen von acht Staaten unter Führung des deutschen Generals Alfred Graf von Waldersee grausam niedergeworfen wurde. China wurde gezwungen, hohe Kontributionen zu zahlen und der Errichtung von Stützpunkten für die Interventionsarmeen zuzustimmen. Das Eingreifen der deutschen Truppen ist auch als sogenannter Hunnenfeldzug bekannt geworden.