Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 381

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Aber dieses Ziel ist nicht das einzige, das wir jetzt predigen müssen. Indem wir in Beantwortung der infamen Wahlreformstümperei[1] der Regierung und der bürgerlichen Parteien die Losung eines wahrhaft demokratischen Wahlsystems proklamieren, befinden wir uns immer noch – die politische Situation im ganzen genommen – in der Defensive. Gemäß dem alten guten Grundsatz jeder wirklichen Kampftaktik, daß ein kräftiger Hieb die beste Verteidigung ist, müssen wir die immer frecheren Provokationen der herrschenden Reaktion damit beantworten, daß wir in unserer Agitation den Spieß umdrehen und auf der ganzen Linie zum scharfen Angriff übergehen. Dies kann aber am sichtbarsten, deutlichsten, sozusagen in lapidarster Form geschehen, wenn wir diejenige politische Forderung klar in der Agitation vertreten, die den ersten Punkt unseres politischen Programms ausmacht: die Forderung der Republik. In unserer Agitation hat bisher die republikanische Parole eine geringe Rolle gespielt. Dies hat seine guten Gründe darin gehabt, daß unsere Partei die deutsche Arbeiterklasse vor jenen bürgerlich- oder richtiger kleinbürgerlich-republikanischen Illusionen bewahren wollte, die zum Beispiel für die Geschichte des französischen Sozialismus so verhängnisvoll waren und bis heute noch geblieben sind. In Deutschland wurde der proletarische Kampf von Anfang an konsequent und entschlossen nicht gegen diese oder jene Formen und Auswüchse des Klassenstaates im einzelnen, sondern gegen den Klassenstaat als solchen gerichtet, er zersplitterte nicht in Antimilitarismus, Antimonarchismus und anderen kleinbürgerlichen ‚Ismen‘, sondern gestaltete sich stets zum Antikapitalismus, zum Todfeind der bestehenden Ordnung in allen ihren Auswüchsen und Formen, ob unter monarchischem oder republikanischem Deckmantel. Durch vierzig Jahre dieser gründlichen Aufklärungsarbeit ist es dann auch gelungen, die Überzeugung zum ehernen Besitz der aufgeklärten Proletarier in Deutschland zu machen, daß die beste bürgerliche Republik nicht weniger ein Klassenstaat und Bollwerk der kapitalistischen Ausbeutung ist als eine heutige Monarchie und daß nur die Abschaffung des Lohnsystems und der Klassenherrschaft in jeglicher Gestalt, nicht aber der äußere Schein der ‚Volksherrschaft‘ in der bürgerlichen Republik die Lage des Proletariats wesentlich zu verändern vermag.

Allein, gerade weil in Deutschland den Gefahren republikanisch-kleinbürgerlicher Illusionen durch die vierzigjährige Arbeit der Sozialdemokratie so gründlich vorgebeugt worden ist, können wir heute ruhig dem obersten Grundsatz unseres politischen Programms in unserer Agitation

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[1] Das Dreiklassenwahlsystem war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages. – Die auf Druck der Massenbewegung von der preußischen Regierung am 5. Februar 1910 eingebrachte Vorlage zur Änderung des preußischen Wahlrechts, die nur eine geringfügige Anderung der Klasseneinteilung und die direkte Wahl unter Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts vorsah, wurde durch die Kommissionen des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses abgelehnt. Die machtvollen Wahlrechtskämpfe, die vom Februar bis April 1910 ihren Höhepunkt erreichten, zwangen die Regierung, ihre Änderungsvorlage am 27. Mai 1910 zurückzuziehen. Bei der zweiten Lesung der Wahlrechtsvorlage im preußischen Abgeordnetenhaus im März 1910 hatten die sozialdemokratischen Abgeordneten Paul Hirsch und Karl Liebknecht erklärt, die Sozialdemokratie werde im Kampf für ein demokratisches Wahlrecht auch außerparlamentarische Mittel einsetzen.