Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 374

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wahl es als selbstverständlich gilt, daß im ganzen Lande eine unermüdliche Agitation entfaltet wird, sämtliche Redner aufgeboten, in jeder Stadt und jedem Städtchen zahllose Versammlungen abgehalten werden, wird jetzt, während der Wahlrechtsbewegung, nichts Derartiges getan. Die in Versammlungen und Flugschriften geleistete Agitation ist allerminimalst. Aus parlamentarischen Gesichtspunkten ist unter anderem der 18. März in diesem Jahre für die Agitation ungenützt geblieben, die für den 15. März angeordneten Berliner Versammlungen sollten an die dritte Lesung [der Wahlrechtsvorlage] des preußischen Abgeordnetenhauses statt an die Revolution anknüpfen. Endlich aus Rücksicht auf den Parlamentarismus und aus parlamentarischen Gewohnheiten wird bei uns die republikanische Agitation so sehr vernachlässigt, die jetzt dringender erforderlich ist als je.

War es also wirklich eine noch größere Zuspitzung unserer ganzen Taktik auf die Reichstagswahlen, eine noch größere Faszinierung der Massen durch Parlamentswahlen, was uns gerade jetzt in Deutschland not tat?

Ich finde es nicht. Irgendwelche „Gefahren“, gegen die es aufzutreten galt, konnten nur in der Einbildung derjenigen existieren, die sich von den anarchistischen Vorstellungen über den Massenstreik nicht losmachen können. Der wirkliche Effekt des Auftretens des Genossen Kautsky ist also nur der, daß er eine theoretische Schirmwand für die Elemente in der Partei und in den Gewerkschaften geliefert hat, die sich bei der weiteren rücksichtslosen Entfaltung der Massenbewegung unbehaglich fühlen, sie im Zaume halten und sich am liebsten so schnell wie möglich auf die alten bequemen Bahnen des parlamentarischen und gewerkschaftlichen Alltags zurückziehen möchten. Indem Genosse Kautsky unter Berufung auf Engels und den Marxismus diesen Elementen für ihr Vorgehen eine Gewissensberuhigung gebracht hat, hat er zugleich ein Mittel geliefert, um derselben Demonstrationsbewegung wieder für die nächste Zeit das Genick zu brechen, die er immer machtvoller gestalten möchte.

Es ist aber klar, daß die weiteren Aussichten der Wahlrechtsbewegung jetzt, umgekehrt, gerade eine Fortsetzung und machtvollere Entfaltung der Massenaktion erfordern. Der parlamentarische Zusammenbruch der Wahlrechtsvorlage bedeutet den Bankrott der Regierung wie des konservativ-klerikalen Blocks[1]. Die Aktion der Gegner ist vorläufig mit ihrem Latein zu Ende, die Aktion des Proletariats muß um so nachdrücklicher einsetzen. Der Gegner befindet sich auf dem Rückzug, uns gebührt die Offensive. Nicht tröstliche Erwartungen auf die grandiose Revanche in anderthalb Jahren an der Wahlurne, sondern Schlag auf Schlag jetzt

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[1] Während der Debatte über die Reichsfinanzreform im Sommer 1909 zerfiel der Bülow-Block und wurde durch den sogenannten Schnapsblock oder Schwarz-Blauen Block aus Konservativen und Zentrum ersetzt.