Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 370

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18. März. Anstatt dessen und um dieser Demonstration aus dem Wege zu gehen, wurden am 15. März jene drei Dutzend Versammlungen in Berlin angeordnet, die angesichts der Stimmung der Massen und nach dem 6. März einen kläglichen Rückzug bedeuteten. Der 18. März aber – ein Datum, das in diesem Jahre für die Massenbewegung eine Bedeutung und Aktualität erlangt hatte wie noch in keinem früheren Jahre, der Jahrestag der deutschen Revolution und der Pariser Kommune, der sich für die Aufrüttelung der Massen, für politische Rückblicke und geschichtliche Analyse, für unbarmherzige Kritik der bürgerlichen Parteien glänzend verwerten ließ –, der 18. März wurde in Berlin überhaupt nicht gefeiert. Weder eine Demonstration noch auch nur Massenversammlungen, noch eine Gedenkschrift – ein matter Leitartikel im „Vorwärts“ und keine Zeile in der „Neuen Zeit“ – das war die Art, wie man die ausgezeichnete Gelegenheit und die ausgezeichnete Stimmung der Massen zu „immer machtvolleren Demonstrationen“ wahrgenommen hat. Und dies ist ganz natürlich. Geht man nicht an die Demonstrationen mit der klaren Entschlossenheit heran, die Bewegung immer weiterzutreiben und vor ihren Konsequenzen nicht zurückzuschrecken, dann ergibt sich jene Zaghaftigkeit, die der Möglichkeit jeder stürmischeren Demonstration lieber aus dem Wege geht.

Die Versammlungen des 15. März in Berlin, die den 18. März totgeschlagen haben, waren ein direkter Schritt zurück, gemessen an der Stimmung der Massen in Berlin und – der Parteigenossen in der Provinz. Wäre hier, wo die Genossen auch den 18. März nach Möglichkeit ausgenutzt haben und wo die Losung des Massenstreiks immer lauter wurde, die Kampfstimmung und die Entschlossenheit nicht so groß gewesen, so hätten wir sicher nicht die Demonstration des 10. Aprils bekommen. Wie sehr dies zutrifft, beweist ein weiterer Umstand. Kaum hatten wir in Berlin am 10. April[1] den großen Sieg über die Reaktion, das Recht auf Straßendemonstrationen durchgedrückt, was wieder einen Schritt vorwärts über den 6. März hinaus bedeutete, wie es zweifellos die Frucht des 6. März war, so ergab sich für die Partei die klare Pflicht, falls sie überhaupt die Demonstrationen weiterführen und sie „immer machtvoller“ gestalten wollte, das neuerrungene Recht auf die Straße aufs äußerste auszunutzen. Die nächste Gelegenheit dazu war – der 1. Mai. Hier erlebten wir aber die befremdende Tatsache : Während im ganzen Lande auch die kleinsten Orte am 1. Mai in dieser oder jener Weise Straßendemonstrationen veranstaltet haben, während in größeren Zentren – in Dortmund,

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[1] Am 10. April 1910 fanden in ganz Preußen und anderen Gebieten Deutschlands Massendemonstrationen für ein demokratisches Wahlrecht statt, nachdem sich die Arbeiter vielfach das Recht auf Versammlungen unter freiem Himmel wiedererkämpft hatten. (Traugott von Jagow, von 1909 bis 1916 Polizeipräsident in Berlin, hatte am 13. Februar 1910 zur Unterdrückung der Wahlrechtsbewegung folgende „Bekanntmachung“ veröffentlichen lassen: „Es wird das ‚Recht auf die Straße’ verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.“ [Sozialdemokratische Partei-Correspondenz, 5. Jg. 1910, Berlin o. J., S. 74.])