Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 369

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/369

Massenstreik fest verknüpft. Im Jahre 1905 waren ja, wie Genosse Kautsky wohl weiß, sogar die Vorbereitungen zum Massenstreik in ernstester Weise getroffen. Es kam zum Massenstreik nur deshalb nicht, weil in beiden Fällen die der Wahlreform zugeneigte Regierung sehr bald die Konzession machte. Bezeichnenderweise tauchte auch in Österreich, als in der tristen Zwischenzeit nach Mitteln gesucht wurde, die Massenbewegung zu beleben, jedesmal wieder – die Losung des Massenstreiks auf. In Graz wie in Salzburg verwandelte sich die Debatte über die Wahlrechtsbewegung in eine Debatte über den Massenstreik. Die Genossen fühlten nämlich alle, was Resel in Graz ausgesprochen hat: eine Wahlrechtsbewegung könne man „nur dann einleiten, wenn man sie bis zum Äußersten durchzuführen entschlossen“ sei.[1] Freilich genügt die Entschlossenheit allein nicht, denn weder Massenstreiks noch Massendemonstrationen lassen sich künstlich aus dem Boden stampfen, wenn die politische Situation einerseits und die Stimmung der Massen andererseits nicht eine entsprechende Steigerung erfahren haben. Man soll sich aber keinen Illusionen hingeben, daß man umgekehrt eine Massenbewegung, daß man Demonstrationen jahrelang ohne Steigerung und ohne die Entschlossenheit zum schärfsten Kampf aufrechterhalten könne.

Wie wenig dies möglich ist, beweist der bisherige Verlauf unserer eigenen Wahlrechtsbewegung in Preußen. Daß vor zwei Jahren die begonnene erste Demonstrationsbewegung nach kurzer Zeit eingestellt wurde, obwohl der Elan der proletarischen Masse durchaus nicht im Abflauen begriffen war, ist ja eine bekannte Tatsache. Aber auch in diesem Jahre verrät die Bewegung in gewisser Hinsicht dieselben Züge. Bei jeder großen Demonstration, die in Berlin veranstaltet wurde, hatte man das deutliche Gefühl, daß sie mit dem inneren Gedanken unternommen wurde: „Nun aber Schluß!“ Nach der großartigen Demonstration im Tiergarten am 6. März[2], die ein großer Schritt vorwärts war von der Demonstration des 13. Februar[3], war die Stimmung der Massen in Berlin so gehoben, daß sich für die Partei, wenn es ihr wirklich darum zu tun war, die Demonstrationen „immer mächtiger“ zu gestalten, die Pflicht ergab, eine nächste passende Gelegenheit zu ergreifen, um eine neue, noch wirksamere Demonstration zu veranstalten. Eine solche Gelegenheit bot sich aber, und eine glänzende – am 18. März oder wenigstens am nächsten Sonntag nach dem

Nächste Seite »



[1] Verhandlungen des Parteitages der Deutschen Socialdemokratie Oesterreichs, abgehalten zu Graz vom 2. September bis einschließlich 6. September 1900, S. 77.

[2] Für den 6. März 1910 hatte die Berliner Sozialdemokratie zu einer Kampfaktion für das demokratische Wahlrecht im Treptower Park aufgerufen, die durch das Eingreifen der Polizei in den Tiergarten umgeleitet werden mußte. Trotz des polizeilichen Verbots vom 13. Februar 1910 gestaltete sich die Veranstaltung durch ihre mustergültige Organisation und Disziplin zu einer eindrucksvollen Kundgebung von etwa 150 000 Demonstranten.

[3] In der Quelle: 12. Februar. – Am 13. Februar 1910 fanden in Berlin und vielen Städten ganz Deutschlands mächtige Wahlrechtsdemonstrationen statt, die durch die provokatorische Bekanntmachung des Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow (Traugott von Jagow, von 1909 bis 1916 Polizeipräsident in Berlin, hatte am 13. Februar 1910 zur Unterdrückung der Wahlrechtsbewegung folgende „Bekanntmachung“ veröffentlichen lassen: „Es wird das ‚Recht auf die Straße’ verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.“ [Sozialdemokratische Partei-Correspondenz, 5. Jg. 1910, Berlin o. J., S. 74.]) über das Verbot von Straßendemonstrationen unter Androhung von Waffengebrauch ausgelöst worden waren.