Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 368

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/368

sieben Jahre gewartet, und ich glaube, es ist endlich notwendig, daß diese Zeit des Wartens im Interesse der Partei ein Ende nehme.“[1]

Mit der „glänzenden Massenbewegung“, die in Österreich zwölf Jahre lang im Fluß erhalten wurde, und dem Elan, der nicht nachließ, sah es also ziemlich dürftig aus. Freilich lag die Schuld nicht an der Parteileitung. Die wirkliche Ursache hat Adler schon in Linz erschöpfend nachgewiesen, indem er sagte: „Sie verlangen …, man möge eine Wahlrechtsbewegung ins Werk setzen …, offenbar eine Bewegung, die mit derselben Entschiedenheit auftritt, wie die, die wir vor mehreren Jahren hatten. Demgegenüber erkläre ich Ihnen: Heute können wir das nicht tun, vielleicht müssen wir es morgen tun, ich weiß es nicht. Daß wir es aber heute nicht tun können, das ist klar. Solche Bewegungen werden nicht ins Werk gesetzt, weil man sie machen will, solche Bewegungen müssen sich als innere Notwendigkeit aus den Verhältnissen ergeben.“[2] Und seitdem mußte dasselbe auf jedem Parteitag wiederholt werden, denn das „Morgen“, an dem eine Massenbewegung für das Wahlrecht in Österreich wieder möglich wurde, ergab sich erst – im Jahre 1905[3], als unter dem unmittelbaren Eindruck des siegreichen Massenstreiks in Rußland, der das Verfassungsmanifest des 30. Oktober erzwungen hatte[4], die auf dem Parteitag[5] versammelten Genossen die Verhandlungen abbrachen, um auf die Straße zu steigen, entschlossen, „russisch zu reden“, wie sie zehn Jahre früher entschlossen waren, „belgisch“ zu reden.

Während also das Proletariat in Österreich tatsächlich nur in den zwei stürmischen Anläufen der Massenbewegung die Wahlreform durchgesetzt hat, die es anfangs der neunziger Jahre unter dem Anstoß des belgischen Massenstreiks und 1905 unter dem Anstoß des russischen Massenstreiks genommen hatte, lehnt Genosse Kautsky sowohl das belgische wie das russische Beispiel für Preußen ab, um uns als Muster auf jene dazwischenliegende achtjährige Periode in Österreich zu verweisen, in der die Wahlrechtsbewegung als Massenaktion in Wirklichkeit völlig daniederlag. Und in beiden Fällen, sowohl bei der Erringung der Taaffeschen Kurie des allgemeinen Wahlrechts wie bei der Erringung der jüngsten Wahlreform, war die Massenbewegung in Österreich mit der Entschlossenheit zum

Nächste Seite »



[1] Ebenda, S. 112.

[2] Verhandlungen des Parteitages der deutschen Sozialdemokratie Oesterreichs, abgehalten zu Linz vom 29. Mai bis einschließlich 1. Juni 1898, S. 71.

[3] Im September 1905 war es in Österreich-Ungarn zum ersten politischen Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht gekommen. Die fortgesetzten Protestbewegungen zwangen die österreichische Regierung, im Januar 1907 dem Parlament ein Gesetz über die Einführung des allgemeinen Wahlrechts vorzulegen.

[4] Unter dem Druck des gesamtrussischen politischen Generalstreiks im Oktober 1905, einem Höhepunkt der Revolution in Rußland, mußte der Zar im Manifest vom 30. Oktober 1905 der Einberufung einer konstituierenden Versammlung, bürgerlichen Freiheiten und dem Wahlrecht für Arbeiter, für die städtisdhe Intelligenz und für Angehörige freier Berufe zustimmen.

[5] Der Gesamtparteitag der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich fand vom 30. Oktober bis 2. November 1905 in Wien statt.