Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 371

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in Köln, in Magdeburg, in Frankfurt am Main, in Solingen, in Kiel, Stettin, Hamburg, Lübeck – die Straßendemonstrationen des 1. Mai an Umfang und Stimmung alle vorhergehenden übertroffen haben und ein wirklicher Schritt vorwärts waren, sowohl in der Wahlrechtsbewegung wie in der Maifeier, hat in Berlin gar keine Straßendemonstration stattgefunden – weder eine erlaubte noch eine unerlaubte, noch auch ein Versuch zu einer solchen. Ein Schock Versammlungen war alles, worin man wieder die prächtige Kampfstimmung der Berliner Arbeiterschaft zersplittert hat.

Während die parlamentarische Behandlung der Wahlrechtsvorlage – das Hin und Her zwischen dem Herrenhaus und dem Abgeordnetenhaus – noch eine monatelange Frist und Gelegenheit zu Demonstrationen bietet und während die Stimmung der Massen nicht das geringste Abflauen zeigt, hat es gar sehr den Anschein, als gingen wir einer schönen „Sommerpause“ entgegen, in der uns schon andere Sorgen plagen – Genosse Kautsky weist uns ja auf die kommenden Reichstagswahlen hin – und in der die Demonstrationsbewegung ruhig, aber sicher zum Schlaf gebettet wird. Das ist die unvermeidliche Logik der Dinge. Nicht durch meine sträfliche Agitation wird die Partei vor ein Dilemma gestellt, wie Genosse Kautsky meint, sondern durch die objektive Sachlage. Entweder will man „eine Volksbewegung größten Stils“ hervorrufen, die Losung „Keine Ruhe in Preußen“ wahr machen, die Demonstrationen immer mächtiger ausgestalten, dann muß man mit der Entschlossenheit an die Sache herantreten, bis zum Äußersten zu gehen, der Zuspitzung der Situation, die sich ergeben kann, nicht ausweichen, alle großen wirtschaftlichen Konflikte für die politische Bewegung ausnutzen, und dann muß man auch die Losung des Massenstreiks auf die Tagesordnung stellen, sie in den Massen populär machen, denn nur auf diese Weise werden die Sicherheit, die Kampffreude und der Mut der Massen auf die Dauer erhalten. Oder aber will man nur ein paar Demonstrationen als kurze Parade nach dem Schnürchen und nach dem Kommando ausführen, um dann vor einer Verschärfung des Kampfes zurückzuweichen und sich schließlich auf die altbewährte Vorbereitung zu den Reichstagswahlen über ein Jahr zurückzuziehen, dann sollte man lieber nicht von einer „Volksbewegung größten Stils“ reden, die Anwendung „aller zu Gebote stehenden Mittel“ auf dem Parteitag ankündigen, im „Vorwärts“ im Januar ein ohrenbetäubendes Säbelgerassel inszenieren und selbst im Parlament mit dem Massenstreik drohen. Dann darf man sich aber auch keiner Täuschung hingeben, daß wir die Demonstrationen auf die Dauer erhalten und immer mächti‑

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