Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 360

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licht wurde. Klar, deutlich, konkret kritisiert er den vormärzlichen utopischen Sozialismus, der durch einen Barrikadenkampf die Verwirklichung des Endziels einzuleiten gedachte, und stellt ihm den modernen sozialdemokratischen Tageskampf entgegen, der namentlich den Parlamentarismus ausnutzt.

Und nun frage ich: Was hat dieses „Testament“ von Engels in aller Welt mit der heutigen Situation und mit unserer Frage vom Massenstreik zu tun? Hat denn irgend jemand an eine plötzliche Einführung des Sozialismus durch den Massenstreik gedacht? Oder ist es irgend jemand eingefallen, auf einen Barrikadenkampf, auf „einen Zusammenstoß mit dem Militär auf großem Maßstab“ hinzuarbeiten? Oder endlich, gedachte vielleicht irgendein Mensch, gegen die Benutzung des allgemeinen Wahlrechtes, gegen die Ausnutzung des Parlamentarismus zu eifern?

Es ist klar: Indem Genosse Kautsky das Engelssche „Testament“ gegen die Losung des Massenstreiks im heutigen preußischen Wahlrechtskampf ins Feld führt, ficht er wiederum siegreich in der Luft gegen ein anarchistisches Gespenst vom Massenstreik, und es sind offenbar die eingefrorenen Trompetentöne Domela Nieuwenhuis’, die ihn plötzlich zu seinem Feldzug aufgescheucht haben.[1] Andererseits wendet sich aber das Engelssche „Testament“, sofern es die veraltete Taktik der Überrumpelungen kritisiert, höchstens gegen den Genossen Kautsky selbst, der ja den Massenstreik als einen vom „Kriegsrat“ geheim ausgeheckten Überrumpelungsstreich auffaßt.

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[1] Es ist übrigens interessant, die Stellung der heutigen Anarchisten zum Massenstreik in Deutschland kennenzulernen. Auf ihrer jüngsten Tagung in Halle während des Pfingstfestes [Die Tagung der Anarchisten fand am 15. Mai 1910 in Halle (Saale) statt.] – es scheint, daß noch einige Dutzend von dieser Sorte in Deutschland existieren – haben sie nach dem Bericht des „Berliner Tageblatts“ folgende Weisheit verzapft:

„Nach der im Anarchismus vorherrschenden Meinung ist ein bloßer Demonstrationsstreik absolut verwerflich. Ein ernsthaft unternommener politischer Massenstreik, bei dem die Arbeit nicht eher wieder aufgenommen werden dürfe, als bis das gesteckte Ziel erreicht sei, bedeute abet den Anfang zur großen Revolution. Diese würde aber unter den gegenwärtigen Verhältnissen ein Unglück für das gesamte Proletariat bedeuten; denn die herrschenden Klassen schlafen nicht ... So weit würde es aber kaum kommen, denn zum ernsthaften Massenstreik fehle es der Sozialdemokratie eben an Menschenmaterial, da die Generalkommission für den ernsthaften Massenstreik nicht zu haben sei, und was diese nicht wolle, könne die Partei nicht durchführen ...

Sämtliche Delegierten waren sich darüber klar, daß ein ernsthafter Massenstreik zur Zeit nur eine Verschlechterung der sozialen Lage des Proletariats bringen könne, während ein Demonstrationsstreik den Grundsätzen des Anarchismus widerspreche.“

Man sieht, es ist das Typische des Räsonnements der Anarchisten: der Massenstreik als ein einmaliger großer Streik, die „große Revolution“, seine Ausführung abhängig davon, ob „die Generalkommission“ für ihn „zu haben ist“ oder nicht. Und von einer solchen Auffassung kommt man eben heute dazu, zu erklären, der Massenstreik wäre „ein Unglück“ für das Proletariat. Im Original mit *