Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 350

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nungsruf ertönen zu lassen? Welche Gefahren waren es, vor denen es die Partei zu retten galt? Dachte vielleicht irgend jemand daran, von heute auf morgen einen Massenstreik zu kommandieren, oder aber bestand die Gefahr, daß man in der Partei grundlose Illusionen in bezug auf die wundertätige Wirkung des Massenstreiks erweckte und damit die Massen leichtfertig in eine Aktion trieb, von der sie die Lösung aller Fragen mit einem Schlage erhofften? Mir ist nichts Derartiges in den Versammlungen oder in der Presse bekannt geworden. Meinerseits ließ ich jedenfalls gar keine Zweifel nach dieser Hinsicht zu.

„Ein aus der Pistole geschossener, durch einfaches Dekret der Partei eines schönen Morgens ‚gemachter‘ Massenstreik“, schrieb ich, „ist bloß kindische Phantasie, anarchistisches Hirngespinst. Ein Massenstreik aber, der sich nach einer monatelangen und an Dimensionen zunehmenden Demonstrationsbewegung gewaltiger Arbeitermassen ergibt, aus einer Situation, in der eine Dreimillionenpartei vor dem Dilemma steht: entweder um jeden Preis vorwärts, oder die begonnene Massenaktion bricht erfolglos in sich zusammen, ein solcher aus dem inneren Bedürfnis und der Entschlossenheit der aufgerüttelten Massen und zugleich aus der zugespitzten politischen Situation geborener Massenstreik trägt seine Berechtigung wie die Gewähr seiner Wirksamkeit in sich selbst.

Freilich ist auch der Massenstreik nicht ein wundertätiges Mittel, das unter allen Umständen den Erfolg verbürgt. Namentlich darf der Massenstreik nicht als ein künstliches, sauber nach Vorschrift und nach Kommando anwendbares einmaliges mechanisches Mittel des politischen Drucks betrachtet werden. Massenstreik ist bloß die äußere Form der Aktion, die ihre innere Entwicklung, ihre Logik, ihre Steigerung, ihre Konsequenzen hat, im engsten Zusammenhang mit der politischen Situation und ihrem weiteren Fortgang. Der Massenstreik, namentlich als ein kurzer einmaliger Demonstrationsstreik, ist sicher nicht das letzte Wort der begonnenen politischen Kampagne. Aber er ist ebensosicher ihr erstes Wort im gegenwärtigen Stadium. Und wenn der weitere Verlauf, die Dauer, der unmittelbare Erfolg, ja die Kosten und die Opfer dieser Kampagne sich auch unmöglich mit dem Bleistift auf dem Papier im voraus, wie die Kostenrechnung einer Börsenoperation, aufzeichnen lassen, so gibt es nichtsdestoweniger Situationen, wo es politische Pflicht einer Partei, die Führerin von Millionen ist, mit Entschlossenheit die Parole zu geben, die einzig den durch sie begonnenen Kampf weiter vorwärtstreiben kann.“[1] Und zum Schlusse sagte ich ganz deutlich, worauf es meines Erachtens ankommt:

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[1] Rosa Luxemburg: Was weiter? In: GW, Bd. 2, S. 294/295.