Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 349

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beipflichten. Haben sie unrecht, so ist es ebenso heilsam und notwendig, daß ihre Gründe öffentlich als unstichhaltig erkannt werden. Die eingehendste Erörterung kann da nur von Nutzen sein und zur Selbstklärung der Partei beitragen, uns auf die Schwächen unserer Bewegung aufmerksam machen, uns die dringendsten praktischen Aufgaben der Agitation oder Organisation vor die Augen führen.

Hatte aber Genosse Kautsky hier gar die Gefahr im Auge, daß durch meine schriftliche und mündliche Agitation die Gewerkschaftsführer auf den Plan gerufen und ihre großen Kanonen gegen die Idee des Massenstreiks auffahren würden, so lag in dieser Befürchtung meines Erachtens eine Überschätzung der Macht der Führer, die wieder nur durch die etwas mechanische Auffassung des Massenstreiks als eines vom „Generalstab“ ausgeheckten und kommandierten Überrumpelungsplans erklärt werden kann. In Wirklichkeit sind die Gewerkschaftsführer gar nicht imstande, eine Massenstreikbewegung zu unterbinden, wenn diese sich aus den Verhältnissen, aus der Zuspitzung des Kampfes, aus der Stimmung der proletarischen Massen ergibt. Treten in solchen Situationen die Gewerkschaftsführer gegen die Bestrebungen der Masse auf, dann ist es nicht um die Stimmung der Masse, sondern um die Autorität der Gewerkschaftsführer geschehen. Tatsächlich herrscht bereits jetzt eine so lebhafte Kampfstimmung in der Arbeiterschaft, daß das öffentliche Auftreten des gewerkschaftlichen Generalstabs im Sinne des Bremsens nichts anderes zur Folge gehabt hätte als das Erwachen der Kritik und des Protestes in den eigenen Reihen der Gewerkschaftsgenossen. Im Interesse der „Anfeuerung zur Aktion“ konnte also nichts wünschenswerter sein, als daß die Gewerkschaftsführer endlich mit ihren „großen Kanonen“ auf dem Plane erschienen, damit man sich ihre Argumente bei Lichte besehen und damit konstatiert werden konnte, wie sehr die Führer in ihrem Fühlen und Denken hinter den Massen zurückgeblieben sind. Daß Genosse Kautsky den Gewerkschaftsführern diese peinliche Mühe abgenommen hat, indem er selbst sich zuerst gegen die öffentliche Diskussion sträubte und, als dies vergeblich war, öffentlich auftrat, um seinerseits als Theoretiker des Radikalismus die Gedanken und das Interesse vom Massenstreik auf die kommenden Reichstagswahlen[1] abzulenken, das wird sicher die lebhafte Genugtuung der Generalkommission der Gewerkschaften hervorgerufen haben. Ob es aber geeignet war, „anfeuernd auf die Aktion“ zu wirken, erscheint mir zweifelhaft.

Was hat also den Genossen Kautsky eigentlich veranlaßt, seinen War-

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[1] Die Reichstagswahlen fanden am 12. Januar 1912 statt. Die Sozialdemokratie konnte die Zahl ihrer Mandate gegenüber 1907 von 43 auf 110 erhöhen und wurde somit zur stärksten Fraktion im Reichstag.