Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 348

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stellung aus, daß der Massenstreik ein bloßes technisches Kampfmittel ist, das nach Belieben und nach bestem Wissen und Gewissen ‚beschlossen‘ oder auch ‚verboten‘ werden könne, eine Art Taschenmesser, das man in der Tasche ‚für alle Fälle‘ zusammengeklappt bereithalten oder auch nach Beschluß aufklappen und gebrauchen kann.“[1]

Auf die aus dieser Auffassung geborenen Befürchtungen des Genossen Kautsky, die öffentliche Erörterung des Massenstreiks würde dem Feinde „die schwachen Punkte“ unserer Position verraten, kann ich nicht besser antworten als mit den Worten des Genossen Pannekoek, der die meisten schwachen Punkte der Kautskyschen Position bereits in der „Bremer Bürger-Zeitung“ beleuchtet hat:

„Wie irreführend“, schrieb Pannekoek, „dieser kriegstechnische Vergleich ist, beweist die Tatsache, daß die Partei nie etwas anderes getan hat, als vor der vollen Öffentlichkeit ihre starken und schwachen Punkte zu diskutieren. Das war nicht anders möglich, weil die Sozialdemokratie keine kleine geschlossene Gruppe, sondern eine Massenbewegung ist. Da ist mit geheimen Plänen nichts zu machen. Die Kraft und die Schwäche hängen hier von allgemeinen politischen und sozialen Verhältnissen ab, von denen nichts geheimzuhalten ist, die durch Geheimhaltung nicht zu vergrößern oder zu verringern sind. Wie könnten wir da dem Feinde unsere Schwächen verraten? Er kennt sie so gut wie wir. Und wenn er sie nicht kennt, wenn er sich über unsere und seine Kraft einer Täuschung hingibt, so liegt auch dies in notwendigen historisch-sozialen Verhältnissen begründet, woran taktische Geheimhaltung nichts ändern kann.“

Aber Genosse Kautsky deutet noch andere schädliche Wirkungen einer öffentlichen Debatte an. „Ich würde es sehr bedauern“, schreibt er, „wenn der Artikel der Genossin Luxemburg den Erfolg hätte, in der Parteipresse eine Diskussion zu entfachen, in der die eine Seite ihre Gründe für die augenblickliche Aussichtslosigkeit eines Massenstreiks auseinandersetzte. Sie mögen recht oder unrecht haben, anfeuernd zur Aktion wirkt eine derartige Erörterung auf keinen Fall.“[2] Dies ist nun ein Standpunkt, der mir vollkommen unbegreiflich ist und den die Sozialdemokratie bis jetzt noch nie vertreten hat. Wir haben die „Anfeuerung zur Aktion“ noch nie durch Illusionen und durch Vertuschung des wahren Sachverhalts vor den Massen zu erzielen gesucht. Haben die Gegner des Massenstreiks mit ihren Gründen für die Aussichtslosigkeit einer solchen Aktion recht, so ist es durchaus heilsam und notwendig, daß wir ihre Gründe hören und ihnen

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[1] Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. In: GW, Bd. 2, S. 98.

[2] K. Kautsky: Was nun? In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 33.