Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 347

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Nicht der Versuch selbst, die Diskussion über den Massenstreik zu unterbinden, ist es also, was im gegebenen Falle betrübend erscheint – dergleichen Verbote sind meines Erachtens eher mit heiterer Seelenruhe als mit Entrüstung aufzunehmen –, sondern die allgemeine Auffassung vom Massenstreik, die jenem Versuch zugrunde liegt. Hört man nämlich die Argumente, womit die Schädlichkeit einer öffentlichen Erörterung des Massenstreiks im gegenwärtigen Moment begründet wird, so könnte man glauben, die Lehren der russischen Revolution, der ganze reiche Schatz der Erfahrungen jener Periode, die für die Beurteilung des Massenstreiks und der proletarischen Kampftaktik überhaupt epochemachend war, seien spurlos vorübergegangen und wir befänden uns noch in den schönen Zeiten der Debatten mit Domela Nieuwenhuis[1] und Cornelissen[2].

„Geschieht das“ – nämlich die Erörterung des Massenstreiks, sagt Genosse Kautsky – „in der Öffentlichkeit, so ist das gleichbedeutend damit, daß man dem Gegner die schwachen Punkte der eigenen Position mitteilt. Die ganze Diskussion wäre ebenso zweckmäßig, als wollte man einen Kriegsrat darüber, ob man dem Gegner eine Schlacht liefern soll, in Hörweite des Feindes abhalten.“[3]

Der Massenstreik wäre demnach ein schlau ersonnener Coup, der vom „Kriegsrat“ der Sozialdemokratie – also etwa vom Parteivorstand und der Generalkommission der Gewerkschaften – im verschlossenen Stübchen geheim ausgeheckt und womit der Feind – hier die bürgerliche Gesellschaft – überrumpelt wird. Gegen diese Auffassung habe ich bereits im Jahre 1906 meine ganze im Auftrag der Hamburger Genossen geschriebene Broschüre über den Massenstreik[4] gerichtet, und ich kann nur wiederholen:

„Auf demselben Boden der abstrakten, unhistorischen Betrachtungsweise stehen aber heute diejenigen, die den Massenstreik nächstens in Deutschland auf dem Wege eines Vorstandsbeschlusses auf einen bestimmten Kalendertag ansetzen möchten, wie auch diejenigen, die, wie die Teilnehmer des Kölner Gewerkschaftskongresses, durch ein Verbot des ‚Propagierens‘ das Problem des Massenstreiks aus der Welt schaffen wollen. Beide Richtungen gehen von der gemeinsamen rein anarchistischen Vor-

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[1] Unter Führung des holländischen Sozialdemokraten Domela Nieuwenhuis trat in der internationalen Arbeiterbewegung eine halbanarchistische Gruppe mit der Forderung auf, das Proletariat solle auf jede Kriegserklärung mit einem Generalstreik antworten und den Wehrdienst verweigern. Auf dem Internationalen Arbeiterkongreß in Brüssel im August 1891 waren diese Auffassungen von der überwältigenden Mehrheit der Delegierten abgelehnt worden.

[2] Christian Cornelissen vertrat die Idee vom Generalstreik als einzigem Mittel zum Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft. Durch den Sieg des Generalstreiks werde mit einem Schlage das Ende der kapitalistischen Ausbeutung herbeigeführt. Cornelissen verkannte, wie wichtig für die Arbeiterklasse die aufklärerische und organisatorische Vorbereitung der Revolution ist.

[3] K. Kautsky: Was nun? In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 33.

[4] Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. In: GW, Bd. 2, S. 91–170.