Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 346

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Kampfstimmung, ein so entschlossener Wille, nötigenfalls durch Massendruck auf der Straße den begonnenen Wahlrechtskampf zum Siege zu führen, und ein so gespanntes Interesse für die Idee des Massenstreiks wie noch nie bis jetzt in Deutschland. Von dieser Stimmung im Lande ist nur ein Parteiblatt bis jetzt gänzlich unberührt geblieben – unser Zentralorgan, der „Vorwärts“, der bis auf den heutigen Tag nicht mit einer Silbe von der ganzen Massenstreikdebatte in der Parteipresse Notiz genommen hat, und eine Parteimitgliedschaft ist darüber in gänzlicher Unwissenheit – die Berliner Genossen, die ja durch den „Vorwärts“ von der Stimmung und dem Geistesleben der Partei im Lande informiert werden sollen. Ja, das Zentralorgan geht in seiner strikten Befolgung der erhaltenen Direktive so eifrig zu Werke, daß es selbst aus Berichten über Versammlungen, die in Berlin abgehalten werden, jedes Wörtchen vom Massenstreik streicht; ist doch auch in der Einsendung, die der „Vorwärts“ über die Massenversammlung in Frankfurt am Main vom 17. April gebracht hatte – derselbe Bericht erschien offenbar „unredigiert“ in anderen Parteiblättern –, bezeichnenderweise der Satz: „Die Referentin löste mit der Propagierung des Massenstreiks stürmische Zustimmung der Versammelten aus“, sorgsam gestrichen worden. Aus dem „Vorwärts“ schöpfte wohl auch der Genosse Kautsky seine Information über die Ansichten der Parteikreise im Lande, da er es für möglich hielt, unter solchen Umständen eine öffentliche Diskussion über den Massenstreik zu unterbinden.

Es ist übrigens nicht das erste Mal, daß der Versuch gemacht wird, die öffentliche Erörterung des Massenstreiks zu verbieten, und schon das jedesmalige Scheitern dieser Versuche bis jetzt hätte meines Erachtens das Zwecklose eines solchen Beginnens genügend dartun sollen. Der Kölner Gewerkschaftskongreß hatte ja im Jahre 1905[1] die „Propagierung des Massenstreiks“ in Deutschland untersagt.[2] Die Vorkonferenz der deutschen Parteigenossen in Österreich vor dem Salzburger Parteitag im Jahre 1904[3] hatte gleichfalls beschlossen, daß die Losung des Massenstreiks auf dem Parteitag nicht erörtert und nicht erwähnt werden solle. Beide Beschlüsse sind aber an dem einfachen Umstand gescheitert, daß die Sozialdemokratie keine Sekte ist, die aus einer Handvoll gehorsamer Schüler besteht, sondern eine Massenbewegung, in der Fragen, die sie im Innern erregen, so oder anders an die Öffentlichkeit treten müssen, ob man es will oder nicht.

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[1] In der Quelle, 1906.

[2] Auf dem fünften Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands vom 22. bis 27. Mai 1905 in Köln war eine Resolution angenommen worden, in der selbst die Diskussion über den politischen Massenstreik als verwerflich bezeichnet wurde.

[3] Der Parteitag der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich fand in Salzburg vom 26. bis 29. September 1904 statt.