Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 345

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Artikel mit dem Satze beginnt: „Die Genossin Luxemburg hat durch einen Artikel in unserem Dortmunder Parteiorgan die Frage des Massenstreiks zur Diskussion gestellt.“[1] Ehe ich noch überhaupt mit meinem Artikel hervorgetreten bin, war die Frage des Massenstreiks bereits in einer ganzen Reihe wichtiger Parteizentren und Parteiblätter auf die Tagesordnung gestellt. Die Genossen in Halle, der Hessen-Nassausche Agitationsbezirk hatten in formellen Anträgen dem Parteivorstand die Befassung mit der Frage des Generalstreiks nahegelegt. Die Genossen in Königsberg, in Essen, in Breslau, in Bremen hatten beschlossen, Vorträge mit Diskussion über den Massenstreik zu veranstalten. In Kiel und in Frankfurt am Main waren ja bereits halbtägige Demonstrationsmassenstreiks[2] mit schönem Erfolg durchgeführt worden. Genosse Pokorny vom Bergarbeiterverband hatte in einer öffentlichen Versammlung in Essen den Massenstreik in Aussicht gestellt und die Hoffnung ausgesprochen, daß in den kommenden großen politischen Kämpfen den Bergarbeitern die führende Rolle zufallen würde; selbst unsere Abgeordneten im preußischen Abgeordnetenhaus hatten bereits mit dem Massenstreik gedroht.[3] Wie sehr die Erörterung des Massenstreiks einfach der Stimmung und dem Bedürfnis der großen Masse der Parteigenossen entsprach, beweist der Umstand, daß mein Artikel so ziemlich von der gesamten preußischen Parteipresse und noch von einigen Blättern außerhalb Preußens nachgedruckt worden ist, beweist ferner der Umstand, daß in den sechzehn großen Versammlungen, die ich im April in Schlesien, in Kiel, in Bremen, in Frankfurt am Main, im rheinisch-westfälischen Industriebezirk und am 1. Mai in Köln abgehalten habe, die Losung des Massenstreiks überall ohne Ausnahme die stürmischste Zustimmung fand. Nur noch eine Losung ruft jetzt in den Parteimassen in Deutschland – wie ich feststellen konnte – eine gleich stürmische Zustimmung hervor: Es ist dies die scharfe Betonung unseres republikanischen Standpunktes; eine Losung, mit der man leider gleichfalls weder im „Vorwärts“ noch in der „Neuen Zeit“ an die Öffentlichkeit treten kann, während ein Teil unserer Provinzpresse – von der Dortmunder „Arbeiter-Zeitung“ bis zur Breslauer „Volkswacht“ – auch in dieser Beziehung ihre Schuldigkeit tut.

So besteht also in den breitesten Massen der Partei eine so starke

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[1] K. Kautsky: Was nun? In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 33.

[2] Am 15. März 1910 hatten sich etwa 10 000 Arbeiter der Kruppschen, der Howaldt- und der Kaiserlichen Werft an einem politischen Halbtagsstreik für das demokratische Wahlrecht in Preußen beteiligt. – Für den 23. Februar 1910 war in Frankfurt (Main) ein politischer Halbtagsstreik ausgerufen worden, mit dem etwa 25 000 Arbeiter gegen die Verweigerung des demokratischen Wahlrechts in Preußen protestierten.

[3] Das Dreiklassenwahlsystem war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages. – Die auf Druck der Massenbewegung von der preußischen Regierung am 5. Februar 1910 eingebrachte Vorlage zur Änderung des preußischen Wahlrechts, die nur eine geringfügige Anderung der Klasseneinteilung und die direkte Wahl unter Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts vorsah, wurde durch die Kommissionen des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses abgelehnt. Die machtvollen Wahlrechtskämpfe, die vom Februar bis April 1910 ihren Höhepunkt erreichten, zwangen die Regierung, ihre Änderungsvorlage am 27. Mai 1910 zurückzuziehen. Bei der zweiten Lesung der Wahlrechtsvorlage im preußischen Abgeordnetenhaus im März 1910 hatten die sozialdemokratischen Abgeordneten Paul Hirsch und Karl Liebknecht erklärt, die Sozialdemokratie werde im Kampf für ein demokratisches Wahlrecht auch außerparlamentarische Mittel einsetzen.