Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 351

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„Dennoch darf keinesfalls erwartet werden, daß eines schönen Tages von der obersten Leitung der Bewegung, vom Parteivorstand und von der Generalkommission der Gewerkschaften, das ‚Kommando‘ zum Massenstreik ergeht. Körperschaften, die eine Verantwortung für Millionen tragen, sind in ihren Entschlüssen, die doch andere ausführen müssen, von Hause aus naturgemäß zurückhaltend. Überdies kann der Entschluß zu einer unmittelbaren Aktion der Masse nur von der Masse selbst ausgehen. Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein – dieser wegweisende Satz des Kommunistischen Manifests hat auch noch die Bedeutung im einzelnen, daß auch innerhalb der Klassenpartei des Proletariats jede große, entscheidende Bewegung nicht aus der Initiative der Handvoll Führer, sondern aus der Überzeugung und Entschlossenheit der Masse der Parteianhänger herrühren muß. Auch der Entschluß, den gegenwärtigen preußischen Wahlrechtskampf gemäß dem Wort des preußischen Parteitages ‚mit allen Mitteln‘, also auch durch das Mittel des Massenstreiks, zum Siege zu führen, kann nur durch die breitesten Parteischichten gefaßt werden. Es ist Sache der Partei- und Gewerkschaftsgenossen, in jeder Stadt und jedem Bezirk zu den Fragen der gegenwärtigen Situation Stellung zu nehmen und ihrer Meinung, ihrem Willen in klarer und offener Weise Ausdruck zu geben, damit die Meinung der organisierten Arbeitermasse als Ganzes sich Gehör verschaffen kann. Und ist das geschehen, dann werden auch unsere Führer sicher auf dem Posten sein, wie sie bis jetzt stets gewesen sind.“[1]

Die Hauptsache also, worum es sich handelte, war, daß die Massen sich mit der Frage des Massenstreiks befassen und dazu Stellung nehmen. Ob ein Massenstreik möglich, angebracht, notwendig, würde sich dann aus der weiteren Situation und aus der Haltung der Masse ergeben. Das Auftreten des Genossen Kautsky dagegen erscheint nun gerade vom Standpunkt der Marxschen Auffassung merkwürdig. Genosse Kautsky selbst baut seine ganze Theorie von der „Ermattungsstrategie“ darauf, daß wir zwar nicht jetzt, aber nach den Reichstagswahlen im nächsten Jahre in die Zwangslage kommen können, den Massenstreik anzuwenden. Genosse Kautsky gibt ferner selbst zu, daß „irgendein plötzliches Ereignis, sagen wir ein Blutbad nach einer Straßendemonstration“[2], den Massenstreik ganz spontan notwendig machen kann. Ja, er schreibt selbst zum Schlusse: „Seit dem Bestand des Deutschen Reiches waren die sozialen, politischen, internationalen Gegensätze niemals so gespannt wie jetzt … Nichts leichter möglich

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[1] S. 299. Hervorhebungen nur hier.

[2] K. Kautsky: Was nun? In: Die Neue Zeit, 28. Jg., 1909/10, Zweiter Band, S. 40.