Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 33

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In dem ewig unvergessenen Junimassaker des Jahres 1848 ertränkten die bürgerlichen Klassen die Revolution im Blut des Pariser Proletariats, um der Arbeiterklasse zu beweisen, daß der sozialistische Umsturz in jenen Jahren, als die breitesten Schichten der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums selbst erst nach der politischen Macht im Staate griffen, eine verfrühte und nicht zu verwirklichende Losung war. Ebenso war schließlich die berühmte Pariser Kommune im Jahre 1871, jene einige Monate währende allmächtige Herrschaft des Proletariats in der Hauptstadt Frankreichs, von vornherein zu einer Niederlage und zur schrecklichen Rache der Bourgeoisie verurteilt, denn auch dieses Mal gelangte die politische Herrschaft nicht als natürliches Resultat der zur Diktatur des Proletariats reifen gesellschaftlichen Verhältnisse in die Hände der Arbeiterklasse, sondern als zufällige Beute, weil die feige französische Bourgeoisie während des Krieges mit Preußen Paris und die Macht im Stich gelassen hatte.

Aus denselben Beispielen geht logisch hervor, daß die Ermüdung der revolutionären Reihen sowie die gewaltsame Drosselung der ganzen Bewegung in gewissen Momenten bürgerlicher Revolutionen möglich und unvermeidlich, heute aber unmöglich sind. Die heutige Revolution im Zarenreich ist die erste, deren Seele die bewußte Arbeiterklasse ist. Gerade darum, weil das kämpfende Proletariat heute nicht von bürgerlichen Klassen und Parteien geführt wird, sondern von der Sozialdemokratie, wodurch sich seine Vorhut ihrer Klasseninteressen, ihrer Aufgaben und auch der gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Verwirklichung bewußt ist, stellt es sich in der gegenwärtigen Revolution keine utopischen und allzu weitreichenden Ziele wie die sofortige Verwirklichung des Sozialismus, sondern ein mögliches und historisch notwendiges Ziel: die Eroberung der demokratischen Republik und des Achtstundentages. Obwohl es, oberflächlich betrachtet, scheinen kann, daß die heutigen Verhältnisse im russischen Staat von der Republik weit entfernt sind, obwohl es scheinen kann, daß der Sprung von der gestrigen Herrschaft des wilden Absolutismus zur demokratischsten Form des bürgerlichen Staates, der Republik, groß ist, handelt es sich doch nicht um eine Möglichkeit und eine Wahrscheinlichkeit nach „Augenmaß“, sondern um die historische Möglichkeit. Das von der Arbeiterklasse Polens und Rußlands gestellte Ziel ist ganz gewiß möglich, das heißt, es ist möglich in bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung des Landes, denn es verträgt sich mit der heute noch unvermeidlichen Klassenherrschaft der Bourgeoisie nach der Revolution, und es entspricht gleichzeitig der bereits hohen politischen Entwicklung der Ar‑

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