Der Liberalismus in Deutschland stirbt seit 60 Jahren mit jedem Tage in einem langen, greisenhaften Siechtum dahin. Das Zentrum bewahrt sich äußerlich eine unvergängliche Kraft. Dafür wird es aber auf einmal wie ein verwitterter Fels zusammenbrechen; denn sein Fundament ist die Arbeiterschaft, und die Arbeiterschaft gehört von Natur ins Lager der Sozialdemokratie. Ist es aber mit der Macht des Zentrums vorbei, ist das Proletariat in Deutschland geeinigt und kampfbereit, dann gibt es keine Macht, die sich uns auf die Dauer widersetzen kann.
Freilich, den Herrschenden bleibt dann noch die Ultima ratio, das letzte Zufluchtsmittel der Reaktion: die brutale Gewalt. Und wir haben keinen Grund anzunehmen, daß, wenn wir unsererseits schärfere Mittel im Kampfe in Anwendung bringen, uns dann von gegnerischer Seite nicht mit den äußersten Mitteln der Gewalt begegnet würde. Wir haben ja so einen kleinen Vorgeschmack in Gestalt des Polizeisäbels bei den ersten Demonstrationen im gegenwärtigen Wahlrechtskampfe bekommen. Doch war uns nicht bloß der Polizeisäbel zugedacht. Die bürgerliche Presse hat uns ja über die Vorbereitungen, die man in Berlin gegen die Demonstration des 6. März ins Werk gesetzt hatte, die folgenden genauen Nachrichten gebracht. Das „Berliner Tageblatt“ schrieb:
„Wie wir erfahren, war am 6. März, dem Sonntag, an dem der Wahlrechtsspaziergang im Tiergarten und im Treptower Park stattfand, die Kaserne des 1. Garde-Feldartillerie-Regiments in der Kruppstraße in ein förmliches Kriegslager verwandelt worden. Auf dem Kasernenhofe waren am Sonntagnachmittag Geschütze und Munitionswagen, mit scharfer Munition versehen, zum Ausrücken fertig aufgefahren; die Pferde standen gesattelt in den Ställen bereit, um jeden Moment angespannt zu werden. Von der Südkaserne wurden Mannschaften zum Munitionsempfang nach der Nordkaserne kommandiert; die Mannschaften wurden dann mit scharfer Revolvermunition versehen.“ (Stürmische Pfuirufe.)
So, werte Anwesende, gedachte man unseren Demonstrationen zu begegnen. Wir kennen ja die Plötzlichkeiten und Unberechenbarkeiten des herrschenden Zickzackkurses genug, um zu wissen, daß vielleicht doch noch ein Moment kommen wird, wo wieder die Kaserne des 1. Garde-Feldartillerie-Regiments in ein Kriegslager verwandelt wird. Allein, werte Anwesende, wenn man auf jener Seite dachte, uns mit solchen Mitteln etwa einen Schritt vom Wege abbringen zu können, so hat man sich gründlich geirrt. Gerade wir Sozialdemokraten haben allen Grund, mit völliger Seelenruhe einem solchen Treffen entgegenzublicken. In dem Moment, wo in Berlin die gesattelten Pferde aus der Nordkaserne ausrücken und die