Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 327

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land nur zeitweilig niedergeworfen ist, daß früher oder später die erdrückten Flammen wieder in die Höhe schießen und das gesamte morsche Gebäude zusammenbrechen wird. Über diese Tatsachen sollten doch auch die preußischen Machthaber einmal nachdenken; sie sollten des Momentes eingedenk sein, wo am 30. Oktober 1905 derjenige, den sie als den mächtigsten Beschützer der internationalen Reaktion anbeteten, vor der einfachen Macht der verschränkten Arme des Proletariats im Staube lag, und sie sollten sich sagen, daß einmal auch in Preußen, auch in Deutschland der Moment kommen muß, wo die Reaktion vor der Macht eines proletarischen Massenstreiks im Staube liegen wird. (Stürmischer Beifall.)

Man sagt manchmal: Sind wir denn überhaupt in Deutschland in der Lage, an ein solches Kampfmittel wie den Massenstreik in absehbarer Zukunft zu denken, da wir doch große Scharen von Arbeitern haben, die nicht in unserem Lager sind, die sich von unseren direkten Gegnern, namentlich vom Zentrum, am Narrenseil führen lassen? Aber, werte Anwesende, wir haben gar keinen Grund, auch in dieser Hinsicht pessimistisch in die Zukunft zu blicken. Nicht ewig wird die Blindheit dieser genasführten Proletarier dauern, und ich sage Ihnen, wenn es ein Mittel gibt, um bei diesen irregeleiteten proletarischen Massen des Zentrums und der anderen bürgerlichen Parteien den Klasseninstinkt, das Klassenbewußtsein plötzlich, wie über Nacht, aufflammen zu lassen, so ist es eine große, kühne Massenaktion des sozialdemokratischen Proletariats. Denn mögen die kleinen Kniffe und Schliche der jesuitischen Verdummungspolitik für den grauen Alltag, für das parlamentarische Getriebe ausreichen – wenn Momente kommen, wo die Entscheidung über große Fragen, über große Probleme des politischen und sozialen Lebens aus den Parlamenten heraus auf die Straße gezerrt wird, aus den Parlamenten, wo glattzüngige Herren einen Dunst um die Dinge zu verbreiten wissen, in dem sich einfache Leute nicht gleich zurechtfinden, wenn die Dinge auf die Straße gezerrt werden und in großen Auseinandersetzungen zwischen den Massen des Proletariats und seinen Gegnern zum Austrag kommen, dann erwacht in jedem Proletarier der Klasseninstinkt mit elementarer Gewalt, dann fühlen auch die christlichen Arbeiter, daß sie Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut sind. Erinnern wir uns der Beispiele, die wir in wirtschaftlichen Kämpfen erlebt haben. Kurz vor dem Ausbruch des denkwürdigen Streiks im Ruhrgebiet[1] gab es nicht nur Leute draußen, sondern

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[1] Vom 7. Januar bis 19. Februar 1905 hatten etwa 215 000 Bergarbeiter im Ruhrgebiet für den Achtstundentag, für höhere Löhne und Sicherheitsvorkehrungen gestreikt. Sie waren durch Solidaritätsstreiks der deutschen und internationalen Arbeiterklasse unterstützt worden. An diesem bedeutendsten Massenstreik vor dem ersten Weltkrieg hatten sich gemeinsam die freigewerkschaftlichen, christlichen und Hirsch-Dunckerschen Bergarbeiterverbände, die Polnische Berufsvereinigung sowie unorganisierte Arbeiter beteiligt.