Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 326

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tiefere Schichten, bis im Oktober des Jahres 1905 der Ausbruch jenes denkwürdigen, in der Geschichte noch nie dagewesenen Massenstreiks erfolgte, der das ganze russische Reich erfaßte, wo Gruben, Fabriken und Werkstätten, wo sämtliche Posten und Telegraphen, wo sämtliche Eisenbahnen stille standen. Und da hat es sich gezeigt, daß dem Väterchen Zaren sein ganzer Wald von Bajonetten, alle seine Batterien und Kartätschen nicht zu helfen vermochten. Der blutige Beschützer der internationalen Reaktion mußte vor der geschlossenen Macht des Proletariats das Haupt beugen und sich das Verfassungsmanifest[1] abringen, jenes berühmte Zarenmanifest, werte Anwesende, dessen letzter trauriger Rest nach dem späteren Siege der Konterrevolution, nach zweimaligem Staatsstreich, ich sage, dessen trauriger Rest in Gestalt des Wahlrechts zur heutigen russischen Duma noch viel fortschrittlicher ist als das, was man uns heute in Preußen als „Wahlreform“ zu bieten wagt. Es gibt Leute, die sagen: Die russische Revolution ist ja geschlagen. Was haben die Kämpfe, was haben jene Massenstreiks, was haben all die Opfer genützt? Denn blickt nach Rußland: Dort herrscht die Knute nach wie vor, dort arbeiten unablässig der Galgen und die Kriegsgerichte. Werte Anwesende! Leute, die so sprechen, sind ganz oberflächliche Beobachter; denn es ist nicht wahr, daß heute in Rußland die Knute in der Weise herrscht, wie sie vor der Revolution geherrscht hat. Bis zur Revolution herrschte sie in Ruhe, dank der Indolenz und dem Stumpfsinn der Massen; jetzt aber herrscht sie gegen den Haß derselben Massen, dank der zeitweiligen Niederwerfung und Schwächung der Massen. Und gerade die Tatsache, daß die traurigen Reste des Absolutismus in Rußland sich heute nur noch im täglichen blutigen Zweikampfe mit der Bevölkerung, nur durch ein Schreckensregiment an der Herrschaft erhalten können, beweist, daß die Zeiten der ruhigen, ungetrübten Herrschaft des Absolutismus für immer vorbei sind. Und wenn heute in Rußland der Galgen und das Kriegsgericht in Permanenz übergegangen sind, so ist das ein Beweis, daß unter der Decke auch die Revolution, der Aufruhr in Permanenz bestehen. Die wertvollste, die dauernde Frucht jener Kämpfe und namentlich jener zahlreichen stürmischen Massenstreiks sind nicht geschriebene Verfassungsmanifeste, die wieder zerrissen und zurückgenommen werden können, sondern es ist das Erwachen des Proletariats, es ist die Klassensammlung, es ist die Aufklärung, es ist die Aufrüttelung der Massen. Und diese Resultate lassen sich durch keine Galgen und keine Kriegsgerichte aus der Welt schaffen. Diese Resultate sind uns auch Gewähr dafür, daß die Revolution in Ruß‑

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[1] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks in Rußland gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest vom 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Preiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.