Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht aus. Und diesmal waren es nicht 125 000, sondern 250 000 Arbeiter, die binnen wenigen Tagen die Werkstätten verließen. Da geschah ein Wunder. Während sich das belgische Parlament zwei Jahre lang abgequält hatte, ohne eine annehmbare Wahlreform zustande bringen zu können, war die Wahlreform unter dem Druck des zweiten Massenstreiks in zwei Tagen fertig! Freilich war es noch nicht das allgemeine, gleiche Wahlrecht, das die Arbeiter verlangten. Die Bourgeoisie hat sich durch das sogenannte Pluralwahlsystem[1], durch doppelte und dreifache Stimmen der Besitzenden, auf jeden Fall ein Übergewicht über die proletarischen Massen zu sichern gewußt. Allein die erste Bresche war doch in das Mauerwerk der Reaktion geschlagen, und schon dieses allgemeine, wenn auch nicht gleiche Wahlrecht hatte dem Proletariat so treffliche Dienste geleistet, daß bei den nächsten Parlamentswahlen im Oktober des Jahres 1894 die belgische Sozialdemokratie auf einen Hieb 28 Mandate, d. h. ein Fünftel sämtlicher Sitze im Parlament, erobert hatte. So, werte Anwesende, hat man für das allgemeine Wahlrecht in Belgien gekämpft.
Und wie ist es denn vor fünf Jahren in Rußland gegangen? Erinnern Sie sich, wie das russische Reich aussah bis zum 21. Januar 1905! Das große russische Reich galt im Laufe des ganzen 19. Jahrhunderts als ein unbegreifliches Rätsel, als ein Phänomen unter allen modernen Staaten, als ein Staat, an dessen Grenzen die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung stille standen, die Stürme der Zeit sich ohnmächtig brachen. Denn mochten im Westen, in Deutschland, in Frankreich, Revolutionen kommen und gehen, mochten Throne krachen und stürzen, mochten Bürgerkriege wüten, das heilige Mütterchen Rußland schlief sanft in der Hut des Väterchen Zaren. Und erinnern Sie sich, mit welchem Neid und mit welcher Ehrfurcht die Machthaber Preußens vor ein paar Jahren hinüber nach dem eisigen Nordosten blickten, wo der einzige glückliche Landesvater herrschte, dem seine Untertanen so gar keine Sorgen machten? Aber der 22. Januar 1905 kam, und plötzlich erhob sich in Petersburg eine hunterttausendköpfige proletarische Masse, zog vor das Schloß des Zaren und forderte die bürgerliche Freiheit und den Achtstundentag. Die erste Antwort waren Kartätschen, ganze Hügel von Niedergemetzelten, Blutströme auf dem Pflaster der Zarenhauptstadt. Aber der einmal begonnene Kampf war nicht mehr zu bannen. Die Flamme der Revolution sprang von Petersburg auf andere Städte über, sie ergriff immer breitere und
[1] Das Pluralwahlsystem ist ein undemokratisches System, bei dem Wähler mit höherer Schulbildung, mit bestimmtem Steueraufkommen usw. mehr als eine Stimme abgeben können.