Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 324

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auch in ganz Belgien die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht. Die Antwort fiel ganz nach preußischem Muster aus: Polizeisäbel, Verhaftungen, Kerkerstrafen, Blutvergießen, das waren so die ersten Beruhigungsmittel für das belgische Proletariat. Die Folgen blieben indes nicht aus. Es folgten zunächst fünf Jahre scheinbarer Ruhe, und die belgische Bourgeoisie dachte, der Sturm sei vorüber. Allein gerade mit dem 1. Mai, mit der Maifeier des Jahres 1891, brach in Belgien der erste Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht aus. 125 000 Arbeiter, eine für das kleine Land ganz bedeutende Masse, standen binnen drei Tagen auf den Beinen und erklärten, nicht eher zur Arbeit zurückzukehren, bis das allgemeine Wahlrecht gewährt sei. Belgien ist ein neutralisierter Staat, d. h., Belgien darf nach dem Übereinkommen der internationalen Mächte in Europa keinen Krieg mit anderen Staaten führen. Es besitzt deshalb auch nur eine bescheidene Armee, die formal dazu bestimmt ist, das Vaterland im Notfalle gegen den eindringenden Feind zu verteidigen. Aber in einem kapitalistischen Staate, werte Anwesende, gibt es dem „inneren Feind“ gegenüber keine Neutralität. Und sobald der erste Massenstreik im Kampfe um das Wahlrecht ausgebrochen war, stellte es sich heraus, wozu eigentlich die bescheidene belgische Armee existiert. Die Bajonette wurden gegen die Arbeitermasse gerichtet; Blut floß in einigen Städten. Allein ich frage Sie: Kann ein kapitalistischer Staat 125 000 Arbeiter niedermetzeln? Wehe dem Staate, dem ein solches Bravourstück je gelingen würde! Denn er hätte ja dieselbe Biene gemordet, von deren Honig er als Drohne lebt. Und kann man vielleicht 100 000 streikende Arbeiter mit Bajonetten zwingen, Maschinen in Bewegung zu setzen? Das kann man auch nicht. Und so blieb der belgischen Regierung und der herrschenden Reaktion nichts anderes übrig, als zähneknirschend nachzugeben. Man hatte dem belgischen Proletariat feierlich versprochen, eine Reformvorlage im Parlament einzubringen. Darauf kehrten die Arbeiter an die Arbeit zurück. Dies war der erste Sieg. Der Kampf war aber damit nicht beendet; denn ein schwerer Kampf und ein zähes Ringen ist es ja überall, womit das Proletariat seine Rechte erobern muß. Freilich war von der Regierung eine Wahlrechtsvorlage im belgischen Parlament eingebracht worden; damit wurde aber gerade dieselbe parlamentarische Komödie eingeleitet, die wir jetzt in Preußen erleben. Es wurde eine Kommission eingesetzt, und da begann ein Feilschen, ein Kuhhandel, ein Hinundherzerren, bei dem kein Ende abzusehen war. Zwei volle Jahre dauerten die Parlamentsberatungen ohne das geringste Ergebnis, bis dem belgischen Proletariat die Geduld riß, und Mitte April des Jahres 1893 brach in Belgien der große

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