Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 323

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Verfassungskampf, sondern um einen echten und rechten proletarischen Klassenkampf handelt, um so mehr werden wir gerade aus der Masse des Proletariats eine solche Klassenaktion, eine solche Macht auslösen können, wie wir sie sonst durch das Zusammengehen mit den Liberalen niemals auslösen könnten.

Werte Anwesende! Ich sage: Wir sind im gegenwärtigen Wahlrechtskampfe wie in allen wichtigen politischen Fragen des Fortschritts in Deutschland ganz allein auf uns gestellt. Aber wer sind „wir“? „Wir“ sind doch die Millionen Proletarier und Proletarierinnen Preußens und Deutschlands. Ja, wir sind mehr als eine Zahl. Wir sind die Millionen jener, von deren Hände Arbeit die Gesellschaft lebt. Und es genügt, daß diese einfache Tatsache so recht im Bewußtsein der breitesten Massen des Proletariats Deutschlands Wurzel schlägt, damit einmal der Moment kommt, wo in Preußen der herrschenden Reaktion gezeigt wird, daß die Welt wohl ohne die ostelbischen Junker und ohne Zentrumsgrafen, ohne Geheimräte und zur Not auch ohne Schutzleute auskommen kann, daß sie aber nicht vierundzwanzig Stunden zu existieren vermag, wenn die Arbeiter einmal die Arme kreuzen. (Stürmischer, lang anhaltender Beifall.)

Wenn unsere preußischen Machthaber aus der Geschichte anderer Staaten lernen wollten, so brauchten sie nur einen Blick nach dem kleinen Belgien zu werfen. Wie ist in Belgien das allgemeine Wahlrecht zustande gekommen? Es ist ein sehr lehrreiches Kapitel sowohl für uns wie für unsere Gegner. Bis in die achtziger Jahre hinein hatte das belgische Proletariat gar keinen Einfluß auf die Gesetzgebung; ein Zensuswahlrecht[1] schloß es von der Teilnahme an den Parlamentswahlen aus. Damals herrschten auch in Belgien Zustände, die dem Lande den Namen eines „Paradieses der Kapitalisten“ erworben haben. Keine Spur von Arbeiterschutzgesetzgebung, 14- bis 16stündige Arbeitszeit, die niedrigsten Löhne, völlige Verwahrlosung der Volksschulbildung und als einzige Mächte, die die große Masse des Proletariats in holdem Verein geistig beherrschten, die Schnapsflasche und der katholische Klerus. Es war in der Tat ein Paradies der Kapitalisten. Aber es hat sich auch in Belgien gezeigt, daß der Krug nur so lange zum Brunnen geht, bis er bricht. Im Jahre 1886 war in die belgischen Arbeitermassen ein neuer Geist getreten. Das äußerte sich zunächst in einem allgemeinen Sturm von Streiks. An der Spitze marschierte diejenige Schicht, die als die tiefstehendste betrachtet wurde: die belgischen Bergarbeiter. Mit den ersten stürmischen Lohnkämpfen erhob sich

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[1] Das Zensuswahlrecht ist ein beschränktes Wahlrecht, nach dem nur Bürger, die bestimmte Wahlzensen erfüllen, wie z. B. ein bestimmtes Mindesteinkommen, das aktive Wahlrecht besitzen.