Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 322

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nächsten Reichstagswahl, höchstwahrscheinlich genau dasselbe tun werden? Oder sind jene treuen Bundesgenossen, auf die wir rechnen können, die bürgerlichen Demokraten, diese jüngste Blüte unserer politischen Entwicklung?[1] Werte Anwesende! Alle Achtung vor der ehrlichen Überzeugung und dem Mannesmut der Gerlach, Breitscheid und Genossen, die wenigstens die Konsequenz haben, das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für beide Geschlechter zu fordern und im Kampfe dafür einzutreten. Allein in einem Kampfe wie der gegenwärtige, wo gewaltige gesellschaftliche Mächte gegeneinander ringen, wo nur große Massen in Betracht kommen, da müssen wir den bürgerlichen Demokraten die Worte des römischen Kaisers entgegenrufen, als er seinen allein vom Schlachtfelde zurückkehrenden Feldherrn sah: „Varus, wo sind deine Legionen?!“ Wir sehen tapfere Offiziere, aber leider, die Armee existiert nicht. Freilich betrachten sich die bürgerlichen Demokraten selbst erst als die Vorhut heranrückender Scharen. Sie wollen die ersten zarten Schneeglöcklein eines anbrechenden bürgerlich-demokratischen Frühlings in Deutschland sein. Nun meine ich aber, wenn das Mißtrauen eine demokratische Tugend ist, so ist es eine sozialdemokratische Pflicht zu nennen. Und nach den Erfahrungen der bisherigen Entwicklung in Deutschland müssen wir leider sagen: Bei aller Sympathie und Hochachtung für die Handvoll bürgerliche Demokraten können wir sie nicht für die Schneeglöcklein eines anbrechenden Lenzes, sondern eher für die spärlichen Herbstzeitlosen eines melancholischen Altweibersommers halten. (Andauernde stürmische Heiterkeit und Beifall.)

Dies, werte Anwesende, die heutige Sachlage. Wo es sich um die Erringung des preußischen Wahlrechts, wo es sich um die Verteidigung des bedrohten Reichstagswahlrechts handelt, wo es sich um die Eroberung der demokratischen Republik handelt, da ist in Deutschland die Sozialdemokratie ganz allein auf sich selbst angewiesen. Und es ist gut, wenn wir uns keiner Täuschung, keiner Illusion in dieser Hinsicht hingeben. Denn haben wir etwa Grund, deshalb pessimistisch in die Zukunft zu blicken, uns die Haare auszuraufen und die Hände zu ringen, weil uns die geschichtliche Entwicklung so böse mitgespielt und uns in dem schweren Kampfe um den politischen Fortschritt ganz isoliert hat? Nein! Ich glaube, wir Sozialdemokraten haben allen Grund, mit dem Gange der Geschichte in diesem Falle, wie noch bis jetzt in allen anderen Fällen, vollauf zufrieden zu sein. Denn je klarer die große Masse des Proletariats erkennt, daß es sich im gegenwärtigen preußischen Wahlrechtskampfe nicht um einen liberalen

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[1] Rudolf Breitscheid war von 1908 bis 1912 Vorsitzender der Demokratischen Vereinigung, die 1908 durch Abspaltung einer bürgerlich-demokratischen Gruppe von der Freisinnigen Vereinigung entstanden war. Er sprach sich im Rahmen der Wahlrechtskämpfe für die Anwendung demokratischer Kampfmittel wie z. B. der Straßendemonstrationen aus. – Professor Franz von Liszt gehörte 1910 zu den Mitbegründern der Fortschrittlichen Volkspartei.