Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 321

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Blocks[1], kennen. Es ist eine Tatsache, die man nie aus den Augen lassen sollte, um die heutigen Gruppierungen auf der politischen Schaubühne richtig einzuschätzen, daß unter dem Reichskanzler v. Bülow dieselben Freisinnigen, dieselben Liberalen, die sich jetzt als dräuende Löwen gegen den Schwarz-Blauen Block aufspielen, sich dazu hergegeben haben, ihren freisinnigen Nacken als Fußschemel für den ostelbischen Kürassierstiefel darzubieten. Der Ingrimm der Freisinnigen über die Herrschaft des konservativ-klerikalen Blocks kennt heute keine Grenzen. Ich frage aber: Was hat die heutige Herrschaft des Schwarz-Blauen Blocks mehr vorbereitet, mehr zur logischen Konsequenz, zur Notwendigkeit gemacht als die Konkurrenz, die der Freisinn dem Zentrum in der Liebedienerei gegen die konservativen Junker bereitet hat? Haben doch die Liberalen bewiesen, daß man heute mit Konservativen in Deutschland unter allen Umständen regieren kann, ob man sich auf das Zentrum, ob man sich auf den Liberalismus stützt.

Wirft man einen oberflächlichen Blick auf die Gruppierung der politischen Parteien, so sieht es aus, als wenn wir im gegenwärtigen Wahlrechtskampfe zwei große Lager gegeneinander stehen hätten: auf der einen Seite die Konservativen und das Zentrum als Wahlrechtsfeinde, auf der anderen Seite die Sozialdemokratie und daneben das liberale Bürgertum als Wahlrechtskämpfer. Allein das ist nur der trügerische Schein, die Oberfläche der Dinge. Blickt man in die Verhältnisse tiefer hinein, berücksichtigt man namentlich den historischen Werdegang, wie er die heutige Situation mit eherner Logik vorbereitet hat, so muß man sich sagen: Wir haben jetzt in Wirklichkeit zwei große Lager auf dem politischen Kampffelde, aber sie sind anders gestaltet; auf der einen Seite steht die Sozialdemokratie ganz allein und auf der anderen Seite als Mitschuldige und Mitverantwortliche für die heute herrschende Reaktion die gesamten Klassen und Parteien der bürgerlichen Gesellschaft.

Es wird uns von bürgerlicher Seite häufig gesagt, wir sollten doch die Wahlrechtsfreunde, die Kampfgefährten, die Bundesgenossen, die zu uns aus jenem Lager stoßen, nicht zurückweisen. Das wollen wir gewiß nicht; sie sollen nur herkommen, wir wollen sie mit offenen Armen aufnehmen. Aber wo sind sie, die treuen Bundesgenossen in unserem politischen Kampfe? Sind es etwa die Freisinnigen, die gestern erst bei den Hottentottenwahlen[2] die schwärzesten Reaktionäre unterstützten, als es galt, einen Sozialdemokraten niederzuwerfen, und die morgen schon, bei der

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[1] Nach den Wahlen zum Reichstag am 25. Januar und 5. Februar 1907 (bekannt geworden als Hottentottenwahlen) hatten sich die Konservativen, die Nationalliberalen und die Linksliberalen zum Bülow-Block (Hottentottenblock) zusammengeschlossen. Gestützt auf diesen Block, war es Bernhard von Bülow möglich, im Reichstag eine Reihe reaktionärer Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen. Während der Debatte über die Reichsfinanzreform im Sommer 1909 zerfiel der Bülow-Block und wurde durch den sogenannten Schnapsblock oder Schwarz-Blauen Block aus Konservativen und Zentrum ersetzt.

[2] Die Wahlen zum Reichstag (bekannt geworden als Hottentottenwahlen) hatten am 25. Januar und 5. Februar 1907 stattgefunden. Die Sozialdemokratie konnte ihre absolute Stimmenzahl von 3 Millionen im Jahre 1903 auf fast 3.3 Millionen 1907 steigern. Auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie erhielt diese nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903.