sinn mit wehenden Fahnen ins Lager des Militarismus schwenkte. – Die Dinge haben ihre Logik, auch wo die Menschen sie nicht haben. Wer A sagt, muß auch B sagen. Wer für den Militarismus ist, muß auch für die indirekten Steuern sein; denn diese sind es, die die Mittel für die militärischen Rüstungen liefern. Und wenn der „weibliche“ Freisinn für den Militarismus schwärmte, so zog der „männliche“ Freisinn die Konsequenz daraus und unterstützte die Ausplünderungspolitik der reaktionären Mehrheit des deutschen Reichstages. Es ist eine Tatsache, die wir nie dem Freisinn vergessen sollten: In jener denkwürdigen Adventnacht des Jahres 1902, als die sozialdemokratischen Vertreter im Reichstage mit dem Mute der Verzweiflung gegen die reaktionäre Mehrheit kämpften, die den Hungerzolltarif[1] durchdrücken wollte, wer hat sich da zum Handlanger für die reaktionäre Mehrheit hergegeben, um durch die Niedertrampelung der Geschäftsordnung des Reichstages die Vertreter der Arbeiterklasse mundtot zu machen? Es war Herr Eugen Richter, der Führer des „männlichen“ Freisinns.
Werte Anwesende! In den letzten Wochen haben wir ein Ereignis erlebt, das in ruhigeren und weniger ernsten Zeitläuften als tragikomisches Zwischenspiel wohl mehr Beachtung gefunden hätte: Es ist die Wiederverheiratung der drei freisinnigen Fraktiönchen.[2] Der „männliche“ Freisinn, der „weibliche“ Freisinn und der hiesige süddeutsche – nennen wir ihn vielleicht den „kindlichen“ – haben sich in einer Fortschrittlichen Volkspartei[3] vereinigt: Sie liegen einander am Halse und weinen Freudentränen, daß sie sich endlich wieder zusammengefunden haben. Sie haben bloß nicht gemerkt, weshalb dies freudige Ereignis eintreten konnte, warum sich die feindlichen Brüder endlich wieder vereinigen konnten: Es ist ja, weil keiner heute dem andern eigentlich etwas zu vergeben hat, weil sie alle drei gleich tief in den Sumpf geraten sind. Wenn irgend jemand an dieser Tatsache Zweifel haben sollte, so erinnere ich Sie daran, welche Vorkommnisse der jetzigen Vereinigung der drei freisinnigen Gruppen einerseits und der jetzigen Ära des Schwarz-Blauen Blocks[4] andererseits vorausgegangen sind. Es sind ja die paar Jahre gewesen, die wir unter dem Namen der freisinnigen Blockära, des konservativ-liberalen
[1] Am 14. Dezember 1902 waren im Reichstag ein neues Zollgesetz und neue Zolltarife beschlossen worden, wodurch die Agrar- und einige Industriezölle wesentlich erhöht wurden. Die sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichstag, die mit allen parlamentarischen Mitteln und unterstützt durch eine breite Protestbewegung in ganz Deutschland gegen den Zollwucher gekämpft hatten, wurden durch wiederholten Bruch der Geschäftsordnung des Reichstags bei ihrem Auftreten im Plenum behindert. Am 1. März 1906 traten die neuen Zolltarife in Kraft und brachten für die Mehrheit der Bevölkerung eine erhebliche Verschlechterung ihrer Lebenslage.
[2] Am 6. März 1910 hatten sich die Freisinnige Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung und die Deutsche Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei vereinigt. Sie war eine liberale Partei mit ausgeprägt imperialistischen Zügen.
[3] In der Quelle: Deutsche Fortschrittspartei.
[4] Während der Debatte über die Reichsfinanzreform im Sommer 1909 zerfiel der Bülow-Block und wurde durch den sogenannten Schnapsblock oder Schwarz-Blauen Block aus Konservativen und Zentrum ersetzt.