Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 319

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Das war das Ende der Revolution von 1848; das war das Ende des allgemeinen, gleichen Wahlrechts in Preußen. Im nächsten Jahre, am 30. Mai 1849, wurde uns jenes Dreiklassenwahlrecht, jenes elendeste aller Wahlsysteme, durch Verordnung oktroyiert, das bis auf den heutigen Tag besteht. Nicht ein Recht also, auf gesetzlichem Wege, mit gesetzlichen Mitteln zustande gekommen, ist dieses herrschende preußische Wahlsystem, nein, ein Produkt der nackten, brutalen Gewalt, ein Produkt des Staatsstreiches, auf den Spitzen der Bajonette Wrangels gebracht, und – ein Produkt des feigen Verrats des deutschen Liberalismus in der Geburtsstunde selbst der deutschen Freiheit.

Damit, werte Anwesende, waren die Würfel in der weiteren Entwicklung Deutschlands gefallen. Jedes weitere Jahrzehnt brachte einen immer tieferen Verfall des Liberalismus. Unter der Bismarckschen Fuchtel brach der erste Trupp der Liberalen zusammen: die Nationalliberalen. Schritt für Schritt gaben sie ihre politischen Grundsätze preis und wurden zum gehorsamen Werkzeug der Regierung bei allen Militärvorlagen, bei allen Ausnahmegesetzen, bis sie sich auf jenes Sinnbild der politischen Charakterlosigkeit und Jämmerlichkeit heruntergewirtschaftet haben, für das der deutsche Volksmund den treffenden Namen „Fraktion Drehscheibe“ erfunden hat. (Lebhafte Zustimmung.) So die Nationalliberalen. Und die Freisinnigen? Diese sind dieselben Bahnen ein Jahrzehnt später gewandelt. Es ist höchst bezeichnend, es ist höchst wichtig für das Verständnis des tragischen Schicksals des deutschen Liberalismus, daß jener Stein des Anstoßes, an dem der deutsche Liberalismus nach und nach zersplitterte, gerade die Frage des Militarismus war. Es war die Anbetung der nackten, brutalen Gewalt des Staates als eines Mittels zur Eroberung fremder Länder, neuer Ausbeutungsgebiete wie vor allem eines Machtmittels gegen den „inneren Feind“, die aufstrebende Arbeiterklasse, was dem deutschen Liberalismus das Genick gebrochen hat. Die Nationalliberalen waren bereits unter Bismarck treue Stützen des Militarismus geworden, die Freisinnigen ihrerseits haben sich aus Anlaß der großen Caprivischen Militärvorlage[1] im Jahre 1893 gespalten. Damals zerfiel der Freisinn[2] in eine sogenannte männliche und eine weibliche Linie, wobei der weibliche Frei‑

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[1] Am 15. Juli 1893 bewilligte der Reichstag unter dem Druck der Reaktion eine Militärvorlage, nachdem der Widerstand gegen deren ersten Entwurf zwei Monate zuvor zur Auflösung des Reichstages durch Wilhelm II. geführt hatte. Diese Militärvorlage übertraf alle Heeresverstärkungen seit 1874 zusammengenommen. Die finanziellen Mittel dazu sollten hauptsichlicb durch höhere Steuern aufgebracht werden.

[2] Im Zusammenhang mit der Zustimmung einiger einflußreicher Mitglieder der Deutschen Freisinnigen Partei zur Militärvorlage am 6. Mai 1893 hatte sich diese Partei in die Freisinnige Vereinigung und die Freisinnige Volkspartei gespalten.