Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 318

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Schichten, die alle direkt oder indirekt an der Ausbeutung des arbeitenden Volkes interessiert sind. Und diese Schichten hätten im Jahre 1848 das revolutionäre Proletariat bewaffnen und es zum Kampfe gegen die Überreste des Feudalismus führen sollen? Aber die deutsche liberale Bourgeoisie hat schon damals das aufstrebende arbeitende Volk mehr gehaßt und gefürchtet als die Reaktion. Zu unserem Pech ist eben Deutschland in der Weltgeschichte etwas spät aufgestanden. Als wir in Deutschland im März des „tollen Jahres“ den ersten Rausch der liberalen Freiheiten erlebten, da waren in Frankreich die sozialen Verhältnisse schon so weit gereift, daß das Bürgertum und das Proletariat messerscharf gegeneinander standen, und während bei uns die Liberalen nicht einmal daran zu denken wagten, die Republik zu proklamieren, hatten in Frankreich die Proletarier nicht bloß die Republik erzwungen, sondern sie forderten sogar die „soziale Republik“, d. h. eine Republik, in der es hienieden Brot und Zuckererbsen genug geben sollte für alle Menschenkinder. In Paris gingen die Proletarier mit einem roten Banner auf die Straßen, auf dem geschrieben stand: Arbeitend leben oder kämpfend den Tod! Und die deutsche liberale Bourgeoisie sollte das deutsche Proletariat zu entscheidenden Kämpfen führen, sie sollte die begonnene Revolution zu den äußersten Konsequenzen treiben? Die deutsche Bourgeoisie blickte hinüber nach Frankreich und klapperte mit den Zähnen vor Angst, daß einmal auch in Deutschland das rote Banner auf der Straße spazierengehen würde. Und so kam es denn, wie es kommen mußte. Kaum war der Liberalismus zur Macht gelangt, da suchte er hinter dem Rücken des Volkes so schnell als möglich mit der geschlagenen Reaktion Frieden und Freundschaft zu schließen. Und während die liberalen Maulhelden in der Nationalversammlung lange Reden hielten, sich um jeden Paragraphen der Verfassung stritten, sammelte die Reaktion im stillen ihre Kräfte und holte zu einem entscheidenden Schlage aus. Am 9. November, an demselben Tage, wo in Wien der deutsche Patriot Robert Blum auf der Brigittenau standrechtlich erschossen wurde[1], da zog in Berlin General Wrangel mit seinen Truppen ein und jagte die Nationalversammlung auseinander[2].

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[1] Am 9. November 1848 war Robert Blum, obwohl er als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung Immunität besaß, wegen seiner Teilnahme am Wiener Aufstand von den konterrevolutionären österreichischen Truppen standrechtlich erschossen worden.

[2] Am 10. November 1848 war unter dem Befehl des Generals Friedrich von Wrangel in Berlin Militär einmarschiert, um den konterrevolutionären Staatsstreich in Preußen zu unterstützen. Trotz der militärischen Auflösung der Nationalversammlung, der Entwaffnung der Bürgerwehr und der Verhängung des Belagerungszustandes rief die liberale Bourgeoisie die bereitstehenden revolutionären Volksmassen nicht zum aktiven Widerstand auf. Mit dem freiwilligen Verzicht auf ihre in den Märzkämpfen errungenen Positionen verriet die Bourgeoisie die Revolution.