Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 315

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durfte, um ein so reaktionäres Werk wie die heutige „Wahlreform“ zustande zu bringen. Die Konservativen und das Zentrum haben, gestützt auf ihre Zweidrittelmajorität im Abgeordnetenhause, ganz allein genügt, um über die parlamentarischen Schicksale der preußischen Wahlreform zu entscheiden.

Allein, werte Anwesende, wie kommt es denn, so müssen wir uns angesichts dieser merkwürdigen Sachlage fragen, wie kommt es, daß solche Zustände überhaupt möglich geworden sind? Wie kommt es, daß heute, im 20. Jahrhundert, in Preußen, dem größten und industriellsten Staate Deutschlands, im Zeitalter der kapitalistischen Entwicklung, wo die Großindustrie, wo Weltverkehr, wo Welthandel die gesamten gesellschaftlichen Zustände beherrschen, daß heutzutage, sage ich, in Preußen zwei Parteien in grundlegenden Fragen unseres politischen Lebens ausschlaggebend sind, die ihrer ökonomischen und politischen Struktur, ihrem ganzen Charakter nach überhaupt nicht in die Neuzeit, sondern ins finstere Mittelalter gehören? (Lebhafte Zustimmung.) Oder, um die Frage anders zu fassen: Wo ist der bürgerliche Liberalismus geblieben, dessen Mission es war, in Deutschland, wie in jedem modernen Staat, dafür zu sorgen, daß wir es im 20. Jahrhundert nicht mit einem Stück mittelalterlichen Feudalismus zu tun haben?

Werte Anwesende! Die Antwort auf diese Frage ist ein Blick auf die Geschichte des deutschen Liberalismus. Es ist eine Tatsache, die sich jeder Proletarier ins Gedächtnis prägen muß, daß wir bereits in Preußen, wenn auch nicht das direkte, so doch das allgemeine, gleiche Wahlrecht, wenigstens für die männliche Bevölkerung, schon einmal besaßen, und zwar vor 62 Jahren. Es war am 18. März des Jahres 1848, wo wir das gleiche Wahlrecht erfochten haben, um das wir heute noch so schwere Kämpfe führen müssen. An jenem 18. März war das Volk von Berlin auf die Straße gestiegen, es hat Barrikaden gebaut, es hat mit den Truppen des Königs gekämpft, und es hat die Truppen des Königs geschlagen. Am 19. März in der Frühe mußten sich die Truppen aus Berlin zurückziehen. Am Nachmittag desselben Tages nahm das Volk seine Toten, trug sie vor das Schloß des Königs und zwang Friedrich Wilhelm IV., denselben stolzen Potentaten, der kurz vorher erklärt hatte, er werde nie und nimmer zugeben, daß sich zwischen ihn und seine Untertanen ein geschriebenes Blatt Papier, genannt Verfassung, schieben sollte, das Volk hat Friedrich Wilhelm IV. gezwungen, vor den Opfern des Barrikadenkampfes das Haupt zu entblößen und dem siegreichen Volke das geschriebene Blatt Papier demütig zu Füßen zu legen. Und diese siegreiche Revolution brachte

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