Einzelstaaten den Bürgern in entsprechender Weise gewährt werden müsse. [Hervorhebung – R. L.] An diesem unserm Standpunkt halten wir unentwegt fest. (‘Bravo!’ im Zentrum.) Daraus ergibt sich auch schon, daß die Vorlage, welche uns jetzt unterbreitet wird, unseren Beifall nicht finden kann. (,Sehr richtig!’ im Zentrum.)“[1]
Wenn Worte einen Sinn haben, so bedeutet die Erklärung des Abgeordneten Herold, daß das Zentrum nach wie vor an dem Standpunkte festhält, daß das Reichstagswahlrecht, das heißt das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht, wenigstens für die männliche Bevölkerung auf Preußen übertragen werden soll und daß das Zentrum von diesem Standpunkte aus die Vorlage der Regierung verwerfen oder abändern würde. Was hat aber dasselbe Zentrum eine Woche später getan, als die Vorlage der Regierung in das kleine Stübchen der Kommissionsberatung gekommen war? Da hat das Zentrum eine „Reform“[2] zustande gebracht, die dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht direkt ins Gesicht schlägt. (Stürmische Pfuirufe.)
Ja, bei der ersten Lesung, in den Reden im Plenum, wo jedes Wort protokolliert wird, wo die Reden am selben Tage in Parlamentsberichten in Hunderten von Zeitungen ins Land hinausgehen und auch von Proletariern gelesen werden, da spricht man als „Volkspartei“, da vertritt man demokratische Grundsätze. Aber im kleinen Stübchen der geschlossenen Kommissionsberatung, wo die breiteste Öffentlichkeit ausgeschlossen ist und man den Herren nicht auf die Finger sehen kann, da stellt es sich erst heraus, was die Partei des Zentrums in Wirklichkeit in der Wahlrechtsfrage denkt und erstrebt. Da haben wir als Wahlreform das Dreiklassenwahlrecht, die indirekte Wahl, die Öffentlichkeit der Wahl für die Wahlmänner und die alte Wahlkreiseinteilung bekommen, und diese herrliche „Reform“ hat das Zentrum mit eigenen Händen geschaffen. Als unsere Presse diese perfide Politik, diesen krassen Widerspruch zwischen den Worten des Zentrums im Plenum und seinen Taten in der Kommission an den Pranger gestellt hat, suchte das Zentrum sich nach der gewöhnlichen Jesuitenmanier herauszureden. Das Zentrum war auch diesmal nur das Opfer der Böswilligkeit anderer Leute. Es waren nach seiner Darstellung die Konservativen, die kategorisch erklärt hätten, sie würden nie für das geheime Wahlrecht der Urwähler zu haben sein, wenn man ihnen nicht von vornherein die indirekte Wahl, das Wahlmännersystem, gesichert
[1] Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 2. Bd., Berlin 1910, Sp. 1478.
[2] Das Zentrum, in dessen offiziellem Programm die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen gefordert wurde, hatte sich am 23. Februar 1910 in der Wahlrechtskommission gemeinsam mit den Konservativen gegen die Einführung des direkten Wahlrechts ausgesprochen. Siehe dazu Rosa Luxemburg: Der preußische Wahlrechtskampf und seine Lehren. In: GW, Bd. 2, S. 312–314.