Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 311

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in der sogenannten Reformvorlage auch noch andere preußische Juwelen, die Öffentlichkeit der Wahl, ferner die bisherige Wahlkreiseinteilung, unangetastet bleiben. Als einzige Konzession an die Anforderungen der Neuzeit sollte uns die direkte Wahl, die Abschaffung des Wahlmännersystems, verliehen werden. Wie Sie wissen, bedeutet diese Abschaffung des indirekten Wahlmodus unter Beibehaltung des Dreiklassensystems, unter Beibehaltung der Öffentlichkeit der Wahl und der bisherigen Wahlkreiseinteilung direkt eine Verhöhnung der demokratischen Gestaltung des Wahlrechts.

Werte Anwesende! Wenn irgendein Mensch vom Mond gefallen wäre, ich meine, ein Mensch, der die preußischen Eigentümlichkeiten nicht kennt, der würde wahrscheinlich angesichts einer solchen Gesetzesvorlage den Schluß gezogen haben, daß man an diesem Werk wahrhaftig nichts mehr verschlechtern könne. Allein diesen Schluß könnte eben nur ein Mensch ziehen, der vom Monde gefallen wäre. In Preußen ist so gar manches möglich, was sonst menschenunmöglich erscheint. Und wir haben es ja auch erlebt, daß es das preußische Abgeordnetenhaus in seiner Kommission fertiggebracht hat, auch noch die Vorlage des Herrn Bethmann ein ganzes Stück reaktionärer, volksfeindlicher zu gestalten. Um die Sache nun in zwei Worten zusammenzufassen, so hat das preußische Abgeordnetenhaus in seiner Kommission das holde Produkt des Herrn Bethmann Hollweg und seiner Geheimräte gewissermaßen auf den Kopf gestellt. Die Vorlage der Regierung brachte die direkte Wahl und den öffentlichen Abstimmungsmodus; die Kommission des preußischen Abgeordnetenhauses hat das Wahlmännersystem, die indirekte Wahl, wieder in die Vorlage zurückversetzt und damit die geheime Wahl oder richtiger den Schein der geheimen Wahl verbunden. Denn, werte Anwesende, geheim abstimmen sollen ja nur die Urwähler, während die Vertrauensmänner des Volkes, die Wahlmänner, nach wie vor öffentlich abstimmen und damit der rächenden Hand der politischen Gegner preisgegeben werden. Wenn man im ganzen das Resultat der Arbeit der preußischen Wahlrechtskommission mit der Vorlage der Regierung vergleicht, so muß man zu dem Schluß gelangen: In ihrem Wesen sind sie wohl gleich reaktionär, doch der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß, während die Vorlage des Herrn Bethmann Hollweg wenigstens offen und zynisch reaktionär ist, das Werk der Kommission des Abgeordnetenhauses bei dem gleichen volksfeindlichen Charakter auch noch perfider, verlogener und scheinheiliger ist. Denn es soll ja durch die Reform, wie sie aus der Kommission hervorgegangen, wie sie dann vom Abgeordnetenhause akzeptiert worden ist, in

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