Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 310

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lamentarischen Schicksale der preußischen Wahlrechtsvorlage. Auch sie weist uns darauf hin, daß wir einzig und allein durch die Aktion der großen Masse draußen im Lande ernste Resultate im Wahlrechtskampfe zu erwarten haben.

Ich will nicht in allen Einzelheiten nochmals den vergangenen parlamentarischen Kampf um die Wahlreform vor Ihnen Revue passieren lassen. Aber einige Momente muß ich doch herausgreifen und zusammenfassen. Sie erinnern sich, als die Bethmann Hollwegsche Vorlage auf das Drängen der Arbeitermassen endlich das Licht der Welt erblickt hatte, als diese Vorlage im Parlament erschienen war, da erhob sich in der ganzen Kulturwelt ein homerisches Gelächter. Denn, Parteigenossen, man kann sich keine echt preußisch-bürokratischere Verhöhnung der Forderungen der Volksmassen in der Wahlrechtsfrage vorstellen als das, was man uns als eine Wahlreform vorzulegen wagte. Genügt es doch, festzustellen, daß diese sogenannte Wahlreform gerade alle die bekannten Infamien des preußischen Wahlsystems konservieren und verewigen sollte, gegen die das Proletariat sich empört, gegen die es zum Kampfe ausgerückt ist. In dieser „Reform“ soll vor allem das berühmte preußische Dreiklassenwahlsystem[1] beibehalten werden.

Werte Anwesende! Sie wissen, daß von gegnerischer Seite uns Sozialdemokraten auf Schritt und Tritt vorgeworfen wird, wir seien böse Hetzer und Aufwiegler, die die einige Nation in Klassen spalten, die zwischen ihnen Haß säen und sie zum Klassenkampf aufreizen. Und was tun diejenigen, die uns diese Vorwürfe entgegenschleudern? Sie gehen hin und wollen die Teilung des einigen Volkes in drei große Klassen zum Gesetz erheben, drei Klassen, von denen die eine die dreihunderttausend „edelsten und besten“ Wähler umfaßt, deren Hände nie die Arbeit gekannt, die aber große patriotische Taschen haben, und auf der anderen Seite beinahe sieben Millionen Wähler als Vertreter der großen Masse der Arbeitenden, wobei die sieben Millionen durch den Willen jener dreihunderttausend Wähler mundtot gemacht werden können. Wenn es je ein Gesetz gegeben hat, das die Klassenspaltung, das den Klassenhaß und den Klassenkampf öffentlich zu Recht, zur Notwendigkeit stempelt, dann ist es das preußische Wahlrechtssystem. Die Dreiklasseneinteilung sollte als preußisches Juwel in der neuen Reformvorlage aufrechterhalten werden. Außerdem sollten

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[1] Das Dreiklassenwahlsystem war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages.