Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 309

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nete man uns noch am 6. März, mitten in der Hauptstadt Preußens. Ungefähr so ging es in vielen anderen Städten zu.

Noch wenige Tage vor der Sonntagsdemonstration des 10. April hat man auf die Ankündigungen der Sozialdemokratie, daß sie neuerdings Kundgebungen unter freiem Himmel plante, diese Kundgebungen überall durch schroffes Verbot seitens der Polizei zu verhindern versucht. Vergangene Woche noch waren in Bremen, in der liberalen Republik, an dem Tage, an dem ich wie hier vor einer gewaltigen Volksversammlung über den Wahlrechtskampf zu sprechen hatte[1], an den Anschlagsäulen kolossale Plakate erschienen, worin die liberale Polizeidirektion ganz im Stile des Herrn v. Jagow[2] die Arbeiter warnte, sich nach der Versammlung auf der Straße zusammenzurotten, sonst würde die Polizei mit dem nötigen Nachdruck dagegen einschreiten. Noch wenige Tage vor der Sonntagsdemonstration versuchte man uns mit schroffen Polizeiverboten zu begegnen. Im letzten Augenblick aber ist oben der Wind umgeschlagen. Im letzten Moment hat man überall die Demonstrationen gestattet. Weshalb wohl, werte Anwesende? Ist es etwa aus spät eingetretener politischer Einsicht, aus gutem Willen geschehen? Ei, nein! Man hat bloß eingesehen, daß man gestatten muß, was man nicht mehr zu verbieten imstande ist! Man hat eingesehen, daß die Sozialdemokratie entschlossen ist, große proletarische Massen auf die Straße zu führen, und sie sich von diesem Vorhaben durch keine Gewaltmittel zurückschrecken läßt. (Lebhafter Beifall.)

Es ist nicht etwa ein Geschenk, was man uns in Gestalt jener polizeilichen Erlaubnis gewährt hat. Nein, es ist ein Recht, das wir uns ertrotzt haben durch unseren Kampf, durch das bloße Erscheinen der Massen auf dem Plan. Und gerade dieser erste Sieg, diese erste Bresche, die wir in das preußische Polizeisäbelregiment geschlagen haben, ist ein bedeutungsvoller Wink für uns, daß wir nur in diesem Zeichen, nur auf diesem Wege auch weiter siegen werden! Wir haben uns bis jetzt in Preußen das Recht auf die Straße erobert, und auf der Straße werden wir uns das allgemeine Wahlrecht erobern.

Zu demselben Schluß drängt uns auch das Resultat der bisherigen par‑

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[1] Am 6. April 1910 hatte Rosa Luxemburg auf einer Veranstaltung in Bremen über den Wahlrechtskampf und seine Lehren gesprochen.

[2] Traugott von Jagow, von 1909 bis 1916 Polizeipräsident in Berlin, hatte am 13. Februar 1910 zur Unterdrückung der Wahlrechtsbewegung folgende „Bekanntmachung“ veröffentlichen lassen: „Es wird das ‚Recht auf die Straße’ verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.“ (Sozialdemokratische Partei-Correspondenz, 5. Jg. 1910, Berlin o. J., S. 74.)