Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 308

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schem Wege erreicht werden kann. Das einzige Wirksame, was in der preußischen Wahlreformfrage geschehen soll, kann und muß draußen im Lande, durch die Macht, durch die unmittelbare Einwirkung der großen Masse des arbeitenden Volkes vollbracht werden. (Lebhafter Beifall.)

Gerade die letzten Ereignisse haben uns in dieser Hinsicht sehr fruchtbare Lehren erteilt. Kürzlich, am Sonntag, dem 10. April, haben wir ein Schauspiel erlebt, wie es Preußen noch nie gesehen hat.[1] Wir hatten in Berlin wie auch in allen größeren Städten Preußens gewaltige Massendemonstrationen unter freiem Himmel. Und das besonders Bezeichnende an diesen Demonstrationen war die Tatsache, daß es die ersten Demonstrationen in ganz Preußen waren, die mit Genehmigung der hochwohllöblichen Polizei stattgefunden haben.

Ich meine damit nicht etwa, daß Demonstrationen, die ohne die Erlaubnis der Polizei veranstaltet werden, weniger politische Bedeutung haben, im Gegenteil, ich meine nur, es ist eine nicht zu unterschätzende Tatsache, daß wir uns zum erstenmal das Recht zu Massenkundgebungen unter freiem Himmel, auf Straßen und Plätzen Preußens ertrotzt haben. Denn wie begegnete man uns noch vor wenigen Monaten, vor wenigen Wochen, als wir nichts anderes tun wollten als gleichfalls auf den Straßen unseren Forderungen Ausdruck geben! Es war am 6. März in Berlin, als wir jene große Massendemonstration, genannt „Wahlrechtsspaziergang nach dem Treptower Park“[2], mitten in der Stadt, im Tiergarten, veranstalteten. Es war ein leuchtender Frühlingstag, wir standen da, eine hunderttausendköpfige Menge, inmitten des gewaltigen städtischen Parks, der sonst nur ein feingekleidetes Publikum sieht, und taten nichts anderes, als einmal übers andere zu rufen: Hoch das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht! Wir standen da, und keinem Menschen war ein Haar auf dem Haupte gekrümmt worden, kein Gräslein war zertreten, kein Ästlein abgebrochen von den Sträuchern. Plötzlich erschien ein Trupp berittener Schutzleute mit geschwungenen Säbeln, und blanke Klingen sausten auf wehrlose Männer und Frauen herab, die nichts taten, als ihre elementarsten politischen Bürgerrechte fordern. (Stürmische Pfuirufe.) So begeg‑

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[1] Am 10. April 1910 fanden in ganz Preußen und anderen Gebieten Deutschlands Massendemonstrationen für ein demokratisches Wahlrecht statt, nachdem sich die Arbeiter vielfach das Recht auf Versammlungen unter freiem Himmel wiedererkämpft hatten. (Traugott von Jagow, von 1909 bis 1916 Polizeipräsident in Berlin, hatte am 13. Februar 1910 zur Unterdrückung der Wahlrechtsbewegung folgende „Bekanntmachung“ veröffentlichen lassen: „Es wird das ‚Recht auf die Straße’ verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.“ [Sozialdemokratische Partei-Correspondenz, 5. Jg. 1910, Berlin o. J., S. 74.])

[2] Für den 6. März 1910 hatte die Berliner Sozialdemokratie zu einer Kampfaktion für das demokratische Wahlrecht im Treptower Park aufgerufen, die durch das Eingreifen der Polizei in den Tiergarten umgeleitet werden mußte. Trotz des polizeilichen Verbots vom 13. Februar 1910 gestaltete sich die Veranstaltung durch ihre mustergültige Organisation und Disziplin zu einer eindrucksvollen Kundgebung von etwa 150 000 Demonstranten.