Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 307

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Werte Anwesende! Gegenwärtig spielt sich in Preußen der letzte Akt der Komödie ab, genannt die parlamentarischen Verhandlungen über die preußische Wahlrechtsvorlage[1]. Wie Sie wissen, ist die Vorlage vor das oberste gesetzgeberische Forum in Preußen getreten, vor jene Kammer der geborenen Gesetzgeber, die gewissermaßen aus dem Mutterleibe in die höchsten Bürgerrechte direkt hineinwachsen – vor das preußische Herrenhaus. Soweit die bisherigen Nachrichten über die Verhandlungen des preußischen Herrenhauses uns ein Bild gestatten, können wir jedenfalls schließen, daß die Wahlrechtsvorlage nicht ohne Änderungen aus dem Herrenhause zurückkommt. Wie die Verhandlungen im einzelnen aber auch ausfallen mögen, das eine steht fest: Wenn das preußische Herrenhaus die preußische Wahlrechtsvorlage weiter abändern sollte, so werden es Abänderungen im reaktionären Sinne sein, so werden es Abänderungen nach der Richtung sein, um die Wahlreform noch volksfeindlicher zu gestalten, als dies dem Abgeordnetenhaus gelungen ist.

Ich glaube jedoch, daß wir Sozialdemokraten allen Grund haben, mit völliger Seelenruhe dem Ausgang dieser Komödie entgegenzusehen, denn wir leben der festen Überzeugung, daß an der Wahlreform, wie sie erst aus den Händen Bethmann Hollwegs, dann aus den Händen des preußischen Abgeordnetenhauses hervorgegangen ist, daß an diesem herrlichen Werk überhaupt nichts mehr zu bessern und nichts mehr zu verpfuschen ist. Wir sind der Überzeugung, daß das einzige, was mit dieser „Wahlreform“ zu geschehen hat, dies ist, daß sie im Orkus verschwindet. Wir haben ferner die feste Überzeugung, daß diese einzige rettende Tat zugunsten der preußischen Wahlreform nimmermehr auf parlamentari‑

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[1] Das Dreiklassenwahlsystem war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages. – Die auf Druck der Massenbewegung von der preußischen Regierung am 5. Februar 1910 eingebrachte Vorlage zur Änderung des preußischen Wahlrechts, die nur eine geringfügige Anderung der Klasseneinteilung und die direkte Wahl unter Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts vorsah, wurde durch die Kommissionen des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses abgelehnt. Die machtvollen Wahlrechtskämpfe, die vom Februar bis April 1910 ihren Höhepunkt erreichten, zwangen die Regierung, ihre Änderungsvorlage am 27. Mai 1910 zurückzuziehen. Bei der zweiten Lesung der Wahlrechtsvorlage im preußischen Abgeordnetenhaus im März 1910 hatten die sozialdemokratischen Abgeordneten Paul Hirsch und Karl Liebknecht erklärt, die Sozialdemokratie werde im Kampf für ein demokratisches Wahlrecht auch außerparlamentarische Mittel einsetzen.