Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 295

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Drucks betrachtet werden. Massenstreik ist bloß die äußere Form der Aktion, die ihre innere Entwicklung, ihre Logik, ihre Steigerung, ihre Konsequenzen hat, im engsten Zusammenhang mit der politischen Situation und ihrem weiteren Fortgang. Der Massenstreik, namentlich als ein kurzer einmaliger Demonstrationsstreik, ist sicher nicht das letzte Wort der begonnenen politischen Kampagne. Aber er ist ebensosicher ihr erstes Wort im gegenwärtigen Stadium. Und wenn der weitere Verlauf, die Dauer, der unmittelbare Erfolg, ja die Kosten und die Opfer dieser Kampagne sich auch unmöglich mit dem Bleistift auf dem Papier im voraus, wie die Kostenrechnung einer Börsenoperation, aufzeichnen lassen, so gibt es nichtsdestoweniger Situationen, wo es politische Pflicht einer Partei, die Führerin von Millionen ist, mit Entschlossenheit die Parole zu geben, die einzig den durch sie begonnenen Kampf weiter vorwärtstreiben kann.

In einer Partei, wo, wie in der deutschen, das Prinzip der Organisation und der Parteidisziplin so beispiellos hochgehalten wird, wo infolgedessen die Initiative unorganisierter Volksmassen, ihre spontane, sozusagen improvisierte Aktionsfähigkeit, ein so bedeutender, oft ausschlaggebender Faktor in allen bisherigen großen politischen Kämpfen, fast ausgeschaltet ist, da liegt der Partei die unabwendbare Pflicht ob, den Wert dieser so hochentwickelten Organisation und Disziplin auch für große Aktionen, ihre Verwendbarkeit auch für andere Kampfformen als für parlamentarische Wahlen nachzuweisen. Es gilt zu entscheiden, ob die deutsche Sozialdemokratie, die sich auf die stärksten Gewerkschaftsorganisationen und das größte Heer der Wähler in der Welt stützt, eine Massenaktion zustande bringen kann, die im kleinen Belgien, in Italien[1], in Österreich-Ungarn, in Schweden[2] – von Rußland gar nicht zu sprechen – in verschiedenen Zeiten mit großem Erfolg zustande gebracht worden ist, oder aber ob in Deutschland eine nach zwei Millionen Köpfen zählende gewerkschaftliche Organisation und eine mächtige, wohldisziplinierte Partei im entscheidenden Moment geradesowenig eine wirksame Massenaktion ins Leben zu rufen vermag wie die durch anarchistische Verwirrung gelähmten französischen Gewerkschaften und die durch innere Kämpfe geschwächte Partei Frankreichs.

Es ist allerdings klar, daß eine Aktion vom Charakter und der Tragweite des Massenstreiks nicht von der Partei allein, ohne die Gewerk‑

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[1] Am 15. September 1904 hatte in Mailand eine mächtige Protestkundgebung stattgefunden, die sich am 17. September zu einem Generalstreik in fast ganz Italien ausweitete. Anlaß des Streiks war die Ermordung streikender Landarbeiter auf Sardinien und Sizilien durch die Polizei. Opportunistische Gewerkschaftsführer beschlossen den Abbruch des Streiks am 20. September.

[2] Vom 4. August bis 6. September 1909 war auf Beschluß der Landeszentrale der Gewerkschaften in Schweden von allen ihr angeschlossenen Organisationen ein allgemeiner Ausstand durchgeführt worden, an dem sich 75 Prozent der in Industrie, Handwerk und Verkehr beschäftigten Arbeiter beteiligten. Mit diesem Streik war der Versuch der Unternehmerverbände abgewehrt worden, durch Aussperrungen während der Wirtschaftskrise die Zustimmung der Gewerkschaften zu Lohnreduzierungen zu erzwingen.