Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 294

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fünf Jahren auf dem Parteitag in Jena durch formellen Beschluß zu einem auch in Deutschland anwendbaren Kampfmittel erhoben.[1] Freilich war bei jenem Beschluß hauptsächlich an eine eventuelle Notwendigkeit, das bestehende Reichstagswahlrecht zu schützen, an eine Defensive gedacht. Allein es ist angesichts der engsten Verkettung der innerpreußischen mit der Reichspolitik, angesichts der jüngsten Provokationen und Staatsstreichdrohungen der preußischen Junker im Reichstag[2], angesichts der ganzen Situation klar, daß es sich im gegenwärtigen Kampfe nicht bloß um das preußische Wahlrecht, sondern in letzter Linie auch um das Reichstagswahlrecht handelt. Siegen diesmal die Junker und ihre Helfershelfer über die Arbeiterschaft in der preußischen Wahlrechtssache, so wird ihnen zweifellos der Mut schwellen, um im gegebenen Moment auch dem verhaßten Reichstagswahlrecht den Garaus zu machen. Und umgekehrt wird ein kräftiger und erfolgreicher Vorstoß der Masse in der preußischen Wahlrechtsfrage offenbar die beste und sicherste Rückendeckung für das Reichstagswahlrecht sein.

Für die Anwendbarkeit des Massenstreiks in der gegenwärtigen Kampagne spricht aber namentlich der Umstand, daß er sich aus einer bereits begonnenen und sich immer mehr ausbreitenden Massenaktion als ihre natürliche unvermeidliche Steigerung gewissermaßen von selbst ergibt. Ein aus der Pistole geschossener, durch einfaches Dekret der Partei eines schönen Morgens „gemachter“ Massenstreik ist bloß kindische Phantasie, anarchistisches Hirngespinst. Ein Massenstreik aber, der sich nach einer monatelangen und an Dimensionen zunehmenden Demonstrationsbewegung gewaltiger Arbeitermassen ergibt, aus einer Situation, in der eine Dreimillionenpartei vor dem Dilemma steht: entweder um jeden Preis vorwärts, oder die begonnene Massenaktion bricht erfolglos in sich zusammen, ein solcher aus dem inneren Bedürfnis und der Entschlossenheit der aufgerüttelten Massen und zugleich aus der zugespitzten politischen Situation geborener Massenstreik trägt seine Berechtigung wie die Gewähr seiner Wirksamkeit in sich selbst.

Freilich ist auch der Massenstreik nicht ein wundertätiges Mittel, das unter allen Umständen den Erfolg verbürgt. Namentlich darf der Massenstreik nicht als ein künstliches, sauber nach Vorschrift und nach Kommando anwendbares einmaliges mechanisches Mittel des politischen

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[1] Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 17. bis 23. September 1905 in Jena beschlossene Resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts.

[2] Am 29. Januar 1910 hatte in der Reidtstagsdebatte über den Militäretat der Konservative Elard von Oldenburg-Januschau eine direkte Aufforderung zum Verfassungsbruch an den Kaiser gerichtet. Gegen dieses provokatorische Auftreten kam es in zahlreichen Städten Deutschlands zu Protestversammlungen.