Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 284

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/284

der Kampf in Paris nur ein kleines Vorpostengefecht ist, daß die Hauptsache in Europa uns noch bevorsteht und daß, ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtenruf des Pariser Proletariats ‚Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggange!‘ der Schlachtruf des gesamten europäischen Proletariats werden wird.“[1]

Bei dieser Gelegenheit bereits hatte sich Bebel jenes Verbrechens schuldig gemacht, das ihm nachher den bissigen Spott überlegener bürgerlicher Professoren und den sanften Vorwurf manches bedächtigen Parteiskeptikers einbringen sollte: Er „prophezeite“. Das heißt, er gab schon damals seinem felsenfesten Glauben an die Realisierbarkeit der sozialistischen Endziele – nicht in den blauen Fernen der Unendlichkeit, sondern in greifbarer, mehr oder minder berechenbarer Zukunft – den lapidaren Ausdruck, indem er von „wenigen Jahrzehnten“ sprach, die uns noch von der Entscheidungsschlacht in dem Weltringen zwischen Arbeit und Kapital trennen. Der historische Weg hat sich in den Niederungen der kapitalistischen Gesellschaft etwas länger ausgedehnt, als es dem kühnen Blick Bebels im Jahre 1871 erschien, wie sich dieser Weg als länger herausgestellt hatte, als die Schöpfer des Kommunistischen Manifestes ein Menschenalter früher mutmaßten. Was verschlug’s aber? Da es nicht die flackernde Ungeduld eines politischen Utopisten, sondern der eherne revolutionäre Glaube des Realpolitikers an die Endziele und Richtlinien seiner Politik war, was aus Bebels Prophezeiung sprach, so wurde er durch die nachfolgenden Jahrzehnte, trotzdem noch der Anfang vom Ende nicht eintreffen wollte, nicht etwa der Enttäuschung und dem Mißmut in die Arme geworfen, sondern umgekehrt in seinem Glauben noch mehr bestärkt. Nach zwanzig Jahren wiederholt Bebel in der obersten Vertretung der Partei, auf dem Parteitag in Erfurt, mit seiner hellen, metallischen Stimme dieselbe „Prophezeiung“: „Ja, ich bin überzeugt, die Verwirklichung unserer letzten Ziele ist so nahe, daß wenige in diesem Saale sind, die diese Tage nicht erleben werden.“[2] Wie ein warmer, elektrisierender Strom des Lebens, des Idealismus, der tatenfreudigen Sicherheit ging es aus Bebels Munde durch die Versammlung. Es wurde Bebel später mit der Schneiderelle in der Hand haarklein nachgewiesen, wie sehr er sich wiederum in dem Augenmaß des Weges bis zum Eintritt in die sozialistische Pforte fatal verrechnet hatte. Aber die aufgeklärten proletarischen Massen draußen im Lande, in Deutschland wie anderwärts, haben ihn

Nächste Seite »



[1] Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages. I. Legislatur-Periode, I. Session 1871, Zweiter Band, Berlin 1871, S. 921.

[2] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. Oktober 1891, Berlin 1891, S. 172.