Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 277

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steigt der soziale Konflikt zum Ausbruch einer Revolutionsperiode, dann wird die Maifeier plötzlich – trotz der Schwäche der Organisationen – zur leibhaftigen absoluten Arbeitsruhe, wie dies in Russisch-Polen[1] 1905 und zum Teil noch in den folgenden Jahren war. In diesem Jahre spiegelte sich der Höchstpunkt des konterrevolutionären Sieges in Rußland in dem tiefsten Grad der Maifeier in Rußland, der seit 20 Jahren erreicht wurde. Hat die Maifeier nicht gerade dadurch ihre. innere Lebendigkeit, ihre unauflösliche Verknüpfung mit den allgemeinen Schicksalen des proletarischen Klassenkampfes bewiesen? In Österreich kulminierte die Periode der stürmischsten Kämpfe des Proletariats um das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht in einer Reihe glänzender Maifeiern. In Frankreich haben die Hochburgen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in den neunziger Jahren durch blutige Maiopfer ihre revolutionäre Gesinnung bekundet. In Deutschland hatten wir in den letzten zwei Jahrzehnten im allgemeinen eine „stille Periode“, unser gesamtes öffentliches Leben leidet unter dem Fluch der bleiernen parlamentarischen Stagnation, die gesamte innere Politik Deutschlands ist auf einen toten Punkt geraten. Was Wunder, daß angesichts dessen auch die Maifeier in Deutschland, bei allen langsamen Fortschritten, nicht zum plötzlichen Ausbruch einer allgemeinen Arbeitsruhe werden konnte? Aber sie deshalb ganz preisgeben, deshalb die nachhaltige alljährliche Agitation um die Arbeitsruhe, für die Losungen des Achtstundentages und des Sozialismus aufgeben hieße soviel wie im voraus öffentlich erklären: Deutschland wird nie aus dem jetzigen Sumpf der Stagnation herauskommen, in Deutschland werden wir nie eine Periode offener großer Kämpfe um die Ziele des Proletariats erleben!

Die Gewerkschaftsorganisationen befürchten die Gefahren der Konflikte aus Anlaß der Maifeier, namentlich angesichts der starken Unternehmerkoalitionen. Aber der jetzige schwedische Generalstreik[2] ruft uns gerade mit mächtiger Stimme die Lehre zu, daß die Unternehmerkoalitionen uns in gewaltige Konflikte treiben, ob wir es wollen oder nicht. Gerade die Politik der Unternehmerverbände treibt zu einer solchen Verallgemeinerung des Konflikts, macht ein Generalaufgebot des ganzen

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[1] Russisch-Polen, Kongreßpolen, Königreich Polen: Im Ergebnis der drei Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795 waren die Westgebiete an Preußen und Galizien samt Krakau an Österreich gegangen, das sogenannte „Kongreßpolen“ bzw. „Königreich Polen«“ wurde auf dem Wiener Kongreß von 1815 in Personalunion mit Rußland verbunden. Nach dem niedergeschlagenen polnischen Aufstand von 1863 behandelten die zaristischen Behörden jedoch die annektierten polnischen Gebiete nicht mehr weiter als »Königreich«, sondern als bloße Provinzen, die sie administrativ aufspalteten. Die Bezeichnung „Polen“ wurde verboten und nur noch vom „Weichselland“ gesprochen. Zugleich wurde eine Politik der „Russifizierung“ verfolgt. – Im Ausland galt »Kongreßpolen« weiterhin als Synonym für den russisch besetzten Teil Polens. Rosa Luxemburg und Leo Jogiches hingegen zogen den Begriff vom 1867 aufgelösten »Königreich Polen« vor, der einerseits die Gleichberechtigung Polens gegenüber Rußland betonte, andererseits die Unabhängigkeit von den Signatarmächten des Wiener Kongresses – „Kongreßpolen“ – signalisierte. Dementsprechend nannten sie ihre 1893 gegründete Partei „Sozialdemokratie des Königreiches Polen“ (SDKP). 1900 wurde daraus die „Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauens“ (SDKPiL).

[2] Vom 4. August bis 6. September 1909 war auf Beschluß der Landeszentrale der Gewerkschaften in Schweden von allen ihr angeschlossenen Organisationen ein allgemeiner Ausstand durchgeführt worden, an dem sich 75 Prozent der in Industrie, Handwerk und Verkehr beschäftigten Arbeiter beteiligten. Mit diesem Streik war der Versuch der Unternehmerverbände abgewehrt worden, durch Aussperrungen während der Wirtschaftskrise die Zustimmung der Gewerkschaften zu Lohnreduzierungen zu erzwingen.