Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 262

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in Deutschland. (Lebhafte Zustimmung.) Frank hat den großen Schatten Lassalles heraufbeschworen. Lassalle hätte besser als wir gewußt, was die Massen in Deutschland fühlen und erstreben. Nun, es war kein anderer als Lassalle, der das bekannte Wort geprägt hat von der verdammten Bedürfnislosigkeit der Massen, er erblickte seine Aufgabe als Sozialist darin, die Massen zur Unzufriedenheit zu erziehen, ihre Forderungen so hoch zu stecken, daß alles, was man hier erringen kann, dagegen als eine Lappalie erscheint. Wir haben als Sozialdemokraten bis jetzt genauso gehandelt. Wir haben die Massen gelehrt, die Errungenschaften, die wir für den bestehenden Staat erzielen können, nicht an dem Elend von Anno dazumal zu messen, sondern an dem, was den Massen noch vorenthalten ist, mit einem Wort, an dem Endziel. („Sehr richtig!“) Wir haben die Massen dazu erzogen, an diesem Endziel zu sehen, daß alles, nicht nur das Recht, die Parteipresse auf den Bahnhöfen zu verkaufen, sondern alles andere, was wir durchsetzen können, nur erbärmliche Abschlagszahlungen sind. Man spricht von der Notwendigkeit, die indifferenten Massen zu gewinnen. Ich behaupte, es liegt darin eine unerhörte und unverdiente Verleumdung der proletarischen Massen in Deutschland und ebenso eine kolossale Unterschätzung der Werbekraft unseres sozialistischen Endziels, wenn man es so hinstellt, als wären es hauptsächlich diese winzigen positiven Errungenschaften, diese erbärmliche Sozialreform, womit wir die Anhängerschaft der proletarischen Massen bis jetzt erkauft haben. Womit haben wir denn die Massen unter dem Sozialistengesetz gewonnen, wo wir ihnen nichts bieten konnten, womit haben wir sie in Preußen gewonnen, wo wir überhaupt keinen Zutritt im Parlament bis jetzt hatten?! Und bedenken Sie, womit wir die Millionen unserer Anhänger in Zukunft festhalten und neue gewinnen, wenn, wie es sich aus der immer zunehmenden Verschärfung der politischen Gegensätze in Deutschland unabweisbar ergibt, die positiven Errungenschaften der Sozialreform immer weniger und nicht mehr möglich werden. („Sehr gut!“) Bis jetzt haben wir das Vertrauen von Millionen nicht durch Trinkgelder und winzige Konzessiönchen erhalten, sondern durch unsere rücksichtslose Kritik alles Bestehenden und durch unser soziales Zukunftsideal. (Lebhafte Zustimmung.) Wohin man kommt, wenn man von diesem Wege abgeht, wenn man glaubt, die Massen nur durch positive Trinkgelder erkaufen zu können, das zeigen wiederum jene bürgerlichen Reformparteien und die Nationalsozialen an erster Stelle: Man kommt zum Schluß um das Vertrauen der Masse und um die Achtung der politischen Gegner, man gewinnt nichts, man verliert alles. Bürgerliche Reformpolitik, das war das

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