Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 243

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nen Niederlagen in Petersburg und Warschau war das Prestige Rußlands in der internationalen Politik auf dem Tiefstand. Wären die europäischen Staaten und die bürgerlichen Klassen Deutschlands, Frankreichs, Englands Vertreter der bürgerlichen Freiheit und nicht das, was sie sind: brutale Vertreter der gemeinsten Ausbeutungs- und Herrschaftsinteressen, so müßte Rußland, das offizielle absolutistische Rußland, nach jenen Niederlagen aus dem europäischen Konzert herausgeworfen, von der öffentlichen Meinung Europas mit Füßen getreten, von der europäischen Börse boykottiert werden. Das gerade Gegenteil ist naturgemäß eingetreten. Erschrocken durch die russische Revolution, eilte das Bürgertum Europas dem russischen Absolutismus zu Hilfe: Mit Hilfe der deutschen und französischen Börse konnte der Zarismus den ersten siegreichen Ansturm der Revolution abwehren, und heute herrscht in Rußland die Konterrevolution, das heißt das Feldkriegsgericht und der Galgen.

Nun sucht der Absolutismus den zeitweiligen Sieg über die Revolution zu einem definitiven zu machen, sich zu befestigen, und dazu versucht er vor allem das alte erprobte Mittel jeder erschütterten Despotie: die Erfolge der auswärtigen Politik.

In diesem Sinne wird in der russischen Reptilpresse seit geraumer Zeit eine wüste Kriegshetze gegen das Ausland angezettelt, aus dieser Tendenz ist der von der Stolypinschen Regierung[1] veranstaltete pansiawistische Rummel geboren, und diesen Zwecken dient der jüngste eklatante Erfolg der russischen Diplomatie, die „herzliche Verständigung“ mit England. Der „Herzensbund“ Englands mit Rußland sowie das Bündnis Frankreichs mit Rußland bedeuten die Befestigung der Heiligen Allianz der Bourgeoisie Westeuropas mit der russischen Konterrevolution, mit den Würgern und Henkern der russischen und polnischen Freiheitskämpfer. Sie bedeuten die Festigung und Unterstützung der blutigsten Reaktion nicht nur im Innern Rußlands, sondern auch in den internationalen Beziehungen. Der denkbar drastischste Beleg dazu ist die momentane Wirtschaft der russischen Kosaken in Persien[2], wo die „friedliche“ Tendenz der rus-

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[1] P. A. Stolypin, ein reaktionär-nationalistischer Politiker, war seit Juli 1906 russischer Ministerpräsident.

[2] Unter dem Einfluß der Revolution in Rußland 1905 hatte sich in Persien eine bürgerlich-demokratische Massenbewegung entwickelt, die zur Einschränkung des Absolutismus, zur Gründung von Revolutionskomitees und Anfang 1907 zur Einführung der konstitutionellen Regierungsform führte. Die vom persischen Schah geführte Reaktion unternahm mit Hilfe Großbritanniens und Rußlands am 23. Juni 1908 einen konterrevolutionären Putsch. Mit Hilfe einer persischen Kosakenbrigade unter Führung eines zaristischen Obersten löste er das persische Parlament auf und beseitigte die Verfassung. Viele Abgeordnete und revolutionäre Kräfte wurden verhaftet, einige davon ermordet. Alle demokratischen Zeitungen wurden verboten. Das Zentrum des revolutionären Kampfes verlagerte sich daraufhin von der Hauptstadt in andere Landesteile, wo die demokratischen Kräfte zunächst noch an Einfluß gewinnen und die Reaktion zurückschlagen konnten. Mit Unterstützung Großbritanniens und des zaristischen Rußlands gelang es der persischen Reaktion im Jahre 1911 schließlich, die Revolution niederzuschlagen.