Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 230

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geschrittenen Bourgeoisie, sondern in die Hände des reaktionären oppositionellen niederen Kleinadels geriet, so geschah das deshalb, weil die deutsche Bourgeoisie – infolge der historischen Rückständigkeit Deutschlands – die erste Phase ihrer Klassenemanzipation nur in der kümmerlichen ideologischen Form der religiösen Reformation verwirklichte und weil sie infolge ihrer Schwäche, anstatt die Bauernkriege zu begrüßen, vor ihnen erschrak und sich der Reaktion in die Arme warf, so wie sich jetzt der sowohl durch die proletarische als auch durch die Bauernbewegung erschreckte russische Liberalismus der Reaktion in die Arme wirft. Es ist klar, daß die politische Führung der chaotischen Bewegung der Bauernschaft und deren Beeinflussung jetzt in Rußland die natürliche historische Aufgabe des bewußten Proletariats ist.

Und wenn es auf diese Rolle aus Angst um die Reinheit seines sozialistischen Programms verzichtete, so würde es wiederum auf dem Niveau einer doktrinären Sekte stehen, aber nicht auf der Höhe des natürlichen historischen Führers der gesamten Masse besitzloser Opfer der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, der es der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus zufolge ist. Erinnern wir uns an die Stelle bei Marx, wo er davon spricht, daß das Proletariat berufen ist, der Kämpfer für alle Besitzlosen zu sein.

Wenden wir uns aber wieder der Frage des Verhältnisses zur Bourgeoisie zu. Ich werde natürlich nicht ernstlich auf die Einwände und die Kritik von seiten des Bundes antworten. Die gesamte politische Weisheit des Bundes läuft, wie sich herausstellt, auf eine außerordentlich einfache These hinaus: die guten Seiten einer jeden Situation ausnutzen, ohne von irgendwelchen festen und bestimmten Prinzipien auszugehen. Von dieser kleinen politischen Weisheit möchten sich die Genossen vom Bund sowohl in dem Verhältnis zu den Fraktionen innerhalb unserer Partei als auch zu den verschiedenen Klassen in der russischen Revolution leiten lassen. In den innerparteilichen Beziehungen läuft diese Opposition eigentlich nicht auf die Rolle eines selbständigen politischen Zentrums hinaus, sondern auf eine Politik, die bereits von vornherein auf das Bestehen zweier verschiedener Fraktionen berechnet ist. Auf den weiten Ozean der russischen Revolution übertragen, führt sie zu äußerst jämmerlichen Ergebnissen. Hier reduziert sich die von den Vertretern des Bundes verteidigte Politik auf die längst bekannte klassische Losung der deutschen Opportunisten: zur Politik „von Fall zu Fall“ oder, wenn Sie wollen, von einem Fallen zum anderen. (Beifall.) Diese deutlich zutage getretene Physiognomie des Bundes ist wichtig und interessant nicht sosehr für die

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