Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 229

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Situation die möglichst schnelle Liquidierung der revolutionären Bewegung mittels eines faulen Kompromisses mit dem Absolutismus erfordern. Was die Bauernschaft angeht, so ist sie – ungeachtet der ganzen Verworrenheit und der Widersprüchlichkeit ihrer Forderungen, ungeachtet des verschwommenen, in verschiedenen Farben schillernden Charakters ihrer Bestrebungen – in der gegenwärtigen Revolution ein objektiv revolutionärer Faktor, da sie in schärfster Form die Frage einer Umwälzung der Agrarverhältnisse auf die Tagesordnung der Revolution stellt und damit eine Frage aufwirft, die im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft nicht gelöst werden kann, die ihrer Natur nach über die Grenzen dieser Gesellschaft hinausgeht. Es ist sehr gut möglich, daß, sobald sich die Wellen der Revolution glätten, sobald die Bodenfrage schließlich und endlich die eine oder andere Lösung im Geiste des bürgerlichen Privateigentums findet, breite Schichten der russischen Bauernschaft sich in eine offen reaktionäre, kleinbürgerliche Partei ähnlich dem Bayerischen Bauernbund[1] verwandeln. Aber solange die Revolution fortdauert, solange die Bodenfrage nicht geregelt ist, ist sie nicht nur eine politische Klippe für den Absolutismus, sondern auch eine soziale Sphinx für die gesamte russische Bourgeoisie und deshalb ein selbständiges Ferment der Revolution, das ihr in Wechselwirkung mit der städtischen proletarischen Bewegung jenen breiten Schwung gibt, der spontanen Volksbewegungen eigen ist. Daraus entspringt auch jene utopisch-sozialistische Färbung der Bauernbewegung in Rußland, die keineswegs die Frucht einer künstlichen Züchtung und der Demagogie von seiten der Sozialrevolutionäre ist, sondern alle großen Bauernaufstände der bürgerlichen Gesellschaft begleitet hat. Es genügt, an die Bauernkriege in Deutschland und an den Namen Thomas Münzer zu erinnern.

Aber gerade weil die Bauernbewegungen utopisch und ihrer Natur nach ausweglos sind, sind sie vollkommen unfähig, eine selbständige Rolle zu spielen, und ordnen sich in jeder historischen Situation der Führung anderer, aktiverer und entschiedenerer Klassen unter. In Frankreich unterstützte die revolutionäre städtische Bourgeoisie energisch die Aufstände der Bauernschaft, der sogenannten Jacquerie[2]. Wenn in Deutschland im Mittelalter die Führung der Bauernkriege nicht in die Hände der fort-

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[1] Der Bayerische Bauernbund war 1895 durch Vereinigung verschiedener bayerischer Bauernbünde gegründet worden. Er trug mittel- und kleinbäuerlichen Charakter und erhob agrarische und föderalistische Forderungen.

[2] Der größte französische Bauernaufstand während der Feudalzeit, die sogenannte Jacquerie, brach im Mai 1358 aus. Der Aufstand war gegen den Adel gerichtet und hatte kein ausgeprägtes Programm. Er wurde im Juni 1358 niedergeschlagen.