Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 231

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Einschätzung seiner selbst als vielmehr deshalb, weil der Bund durch sein Bündnis und die Unterstützung der Menschewiki auf diesem Parteitag der Tendenz der Politik der Genossen Menschewiki Nachdruck verleiht.

Genosse Plechanow hat mir den Vorwurf gemacht, daß ich in gewisser Beziehung den verflüchtigten, über den Wolken schwebenden Marxismus darstelle. Genosse Plechanow, der sogar dann liebenswürdig ist, wenn das nicht seine Absicht ist, hat mir in diesem Fall wirklich ein Kompliment gemacht. Um sich im Verlauf der Ereignisse zu orientieren, muß der Marxist die Verhältnisse überschauen, nicht indem er in den Tiefen der täglichen und stündlichen Konjunktur herumkriecht, sondern von einer bestimmten theoretischen Höhe aus. Und die Warte, von der aus der Verlauf der russischen Revolution zu betrachten ist, ist die internationale Entwicklung der bürgerlichen Klassengesellschaft und der von ihr erreichte Reifegrad. Genosse Plechanow und seine Freunde haben mir bittere Vorwürfe darüber gemacht, daß ich für die gegenwärtige Revolution so verlockende und glänzende Perspektiven entwerfe, als stünden dem russischen Proletariat lauter unbegrenzte Siege bevor. Das ist völlig unrichtig. Meine Kritiker unterschieben mir in diesem Falle die mir vollkommen fremde Auffassung, das Proletariat könne und dürfe seine Kampftaktik nur unter der Bedingung in vollem Ausmaß und mit aller Entschiedenheit entfalten, daß ihm von vornherein lauter Siege garantiert sind. Ich finde im Gegenteil, daß der Führer schlecht und die Armee armselig sind, die eine Schlacht nur dann aufnehmen, wenn sie den Sieg von vornherein in der Tasche haben. Im Gegenteil: Ich gedenke dem russischen Proletariat nicht eine Reihe sicherer Siege zu prophezeien, sondern ich glaube eher, daß, wenn die Arbeiterklasse, getreu ihrer historischen Aufgabe, ihre Kampftaktik entsprechend den sich immer stärker entfaltenden Widersprüchen und den sich ständig erweiternden Perspektiven der Revolution immer weiter ausdehnen und immer entschlossener durchführen wird, sie in sehr komplizierte Situationen voller Schwierigkeiten geraten kann. Mehr noch: Ich glaube sogar, daß auf die russische Arbeiterklasse, wenn sie sich auf der Höhe ihrer Aufgaben erweisen wird, das heißt durch ihre Aktionen den Verlauf der revolutionären Ereignisse bis an die äußerste, durch die objektive Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegebene Grenze heranführen wird, daß auf sie an dieser Grenze fast unvermeidlich eine große vorübergehende Niederlage wartet. Aber ich meine, daß das russische Proletariat den Mut und die Entschlossenheit besitzen muß, um all dem entgegenzutreten, was ihm die geschichtliche Entwicklung zu‑

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