Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 224

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die „Revolution auszulösen“, wenn sie zeitweilig abgeflaut ist, und dieses Unvermögen, sie auszunutzen und entschlossen auf der Höhe zu sein, wenn sie von neuem aufschäumt – wenn man das alles sieht, dann möchte man unwillkürlich ausrufen: In welchen Wirrwarr habt Ihr, Genossen, die Marxsche Lehre verwandelt, die sich sehr wohl durch Biegsamkeit, aber auch durch Schärfe auszeichnet, die todbringend ist wie eine Damaszener Klinge.

In was für ein besorgtes Gackern einer Henne, die auf dem Dunghaufen des bürgerlichen Parlamentarismus eine Perle sucht, habt Ihr diese Lehre verwandelt, die die großen Adlerschwingen des Proletariats darstellt! Der Marxismus enthält doch zwei wesentliche Elemente: das Element der Analyse, der Kritik, und das Element des tätigen Willens der Arbeiterklasse als den revolutionären Faktor. Und wer nur die Analyse, nur die Kritik in die Tat umsetzt, vertritt nicht den Marxismus, sondern eine erbärmliche, verfaulende Parodie dieser Lehre.

Ihr, Genossen des rechten Flügels, beklagt Euch sehr über die Enge, die Intoleranz, über eine gewisse Mechanistik in den Auffassungen der sogenannten Genossen Bolschewiki. (Zwischenrufe: „Bei den Menschewiki.“) Und wir sind mit Euch in dieser Hinsicht ganz einverstanden. (Beifall.)

Die polnischen Genossen, die mehr oder weniger in Formen zu denken gewöhnt sind, die sie der westeuropäischen Bewegung entnommen haben, sind von dieser spezifischen Unbeugsamkeit wahrscheinlich noch befremdeter als wir. Aber wißt Ihr, Genossen, woraus alle diese unangenehmen Züge entstehen? Für einen Menschen, dem die innerparteilichen Verhältnisse in anderen Ländern bekannt sind, sind dies sehr bekannte Züge: Es ist das typische geistige Antlitz jener Richtung des Sozialismus, die gegen eine andere, ebenfalls starke Richtung das Prinzip der selbständigen Klassenpolitik des Proletariats verteidigen, muß. (Beifall.)

Unbeugsamkeit ist die Form, die die sozialdemokratische Taktik auf dem einen Pol unweigerlich annimmt, wenn sie sich auf dem anderen Pol in eine formlose Gallerte verwandelt, die unter dem Druck der Ereignisse in alle Richtungen auseinandergeht. (Beifall der Bolschewiki und eines Teils des Zentrums.)

Wir in Deutschland können uns den Luxus erlauben, suaviter in modo, fortiter in re zu sein – hart und unbeugsam, was den Kern der Taktik betrifft, nachgiebig und tolerant, was die Form betrifft. Wir können es darum, weil das Prinzip der selbständigen revolutionären Klassenpolitik des Proletariats bei uns so fest und unerschütterlich verankert ist, weil es

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