Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 225

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-2/seite/225

eine so überwältigende Mehrheit der Partei hinter sich hat, daß das Vorhandensein und sogar die Betätigung eines Häufleins von Opportunisten in unseren Reihen für uns vollkommen ungefährlich ist; im Gegenteil, die Freiheit der Diskussion und die Meinungsverschiedenheiten sind im Hinblick auf die Größe der Bewegung geradezu notwendig. Wenn ich nicht irre, so waren es gerade einige Führer des russischen Marxismus, die es uns seinerzeit nicht verzeihen konnten, daß wir in Deutschland zuwenig unbeugsam waren, daß wir zum Beispiel Bernstein nicht aus den Reihen der Partei entfernten. Aber wenden wir den Blick von Deutschland weg und der Partei in Frankreich zu, und wir finden dort, wenigstens war das noch vor einigen Jahren so, ganz andere Verhältnisse. Zeichnete sich nicht die Partei Guesdes[1] seinerzeit durch die sehr beträchtliche Eigentümlichkeit ihres unbeugsamen Charakters aus? Was bedeutete zum Beispiel die Erklärung unseres Freundes Guesde – die sich seine Gegner so sehr bemühten auszunutzen –, daß es im Grunde genommen für die Arbeiterklasse kein großer Unterschied sei, ob an der Spitze des Staates der republikanische Präsident Loubet oder Kaiser Wilhelm II. stehe? Trug nicht das Antlitz unserer französischen Freunde einige typische Züge sektiererischer Gradlinigkeit und Unduldsamkeit, Züge, die sie naturgemäß in den langen Jahren der Verteidigung der Klassenselbständigkeit des französischen Proletariats gegen den verschwommenen und „breiten“ Sozialismus aller Schattierungen angenommen haben? Und trotzdem schwankten wir damals nicht eine Minute – Genosse Plechanow ging damals mit uns zusammen –, zweifelten wir nicht daran, daß der Kern der Wahrheit auf dieser Seite ist und daß es notwendig war, die Guesdisten mit allen Kräften gegen ihre Feinde zu unterstützen. Genau ebenso betrachten wir heute die Einseitigkeit und die Enge des linken Flügels der russischen Sozialdemokratie als natürliches Resultat der Geschichte der russischen Partei in den letzten Jahren, und wir sind überzeugt, daß diese Züge nicht durch irgendwelche künstlichen Mittel vernichtet werden dürfen, sondern daß sie sich selbst erst dann ausgleichen, wenn das Prinzip der Klassenselbständigkeit und der revolutionären Politik des Proletariats genügend gefestigt sein und in den Reihen der russischen Sozialdemokratie endgül‑

Nächste Seite »



[1] Gemeint ist die revolutionäre marxistische Strömung in der französischen Arbeiterbewegung unter Führung von Jules Guesde. Zunächst organisatorisch in der Parti Ouvrier (Arbeiterpartei) verankert, schloß sie sich 1901 mit den Blanquisten und anderen Gruppen zur Parti Socialiste de France (Sozialistische Partei Frankreichs) zusammen. Im April 1905 vereinigte sich diese linksstehende Partei mit der Parti Socialiste Français (Französische Sozialistische Partei) zur Parti Socialiste (Section Française de l’Internationale Ouvrière) (Sozialistische Partei [Französische Sektion der Arbeiterinternationale]).