Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 222

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Bewegung und Streikbewegung nach dem Januar 1905 verwandelte sie aus einem kleinen Häuflein von Revolutionären, aus einer schwachen Sekte in eine gewaltige Massenpartei, und die Sorgen der Sozialdemokratie bestehen nicht in der Schwierigkeit, „Ansatzpunkte“ für den Klassenkampf zu finden, sondern umgekehrt in der Schwierigkeit, das unermeßliche Tätigkeitsfeld zu erfassen und auszunutzen, das ihr der gigantische Klassenkampf der Revolution eröffnet. Inmitten dieses Kampfes Schutz zu suchen und sich – wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm – an die kleinsten Anzeichen von Parlamentarismus als an die einzige Gewähr für den Klassenkampf, der uns nach dem Sieg der Liberalen erst bevorsteht, zu klammern bedeutet nicht zu verstehen, daß die Revolution eine schöpferische Periode ist, in der die Gesellschaft in Klassen zerfällt. Überhaupt ist das Schema, dem man den Klassenkampf des russischen Proletariats anpassen wollte, ein grobes Schema, das in Westeuropa nirgends verwirklicht wurde und das nur ein grober Abklatsch der ganzen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit ist.

Freilich ist der wirkliche Marxismus ebensoweit entfernt von der einseitigen Überschätzung des Parlamentarismus wie von der mechanischen Auffassung von der Revolution und der Überschätzung des sogenannten bewaffneten Aufstandes. Hier sind meine polnischen Genossen und ich anderer Ansicht als die Genossen Bolschewiki. Wir in Polen mußten schon gleich bei Beginn der Revolution, als diese Frage bei den russischen Genossen überhaupt noch nicht auf der Tagesordnung stand, damit rechnen, daß versucht werden würde, der revolutionären Taktik unseres Proletariats den Charakter einer Verschwörerspekulation und eines grobrevolutionären Abenteurertums zu geben. Wir erklärten von Anfang an – und mir scheint, es ist uns gelungen, diese Anschauung in den Reihen des bewußten polnischen Proletariats gründlich zu verankern –, daß wir den Plan, die breiten Volksmassen auf illegalem Wege zu bewaffnen, für ein utopisches Unternehmen halten, ebenso wie den Plan, den sogenannten bewaffneten Aufstand vorzubereiten und vorsätzlich zu organisieren. Wir haben von Anfang an erklärt, daß die Aufgabe der Sozialdemokratie nicht in der technischen, sondern in der politischen Vorbereitung des Massenkampfes gegen den Absolutismus besteht. Natürlich halten wir es für notwendig, die breitesten Massen des Proletariats darüber aufzuklären, daß ihr unmittelbarer Zusammenstoß mit der bewaffneten Macht der Reaktion, daß der allgemeine Volksaufstand der einzige Abschluß des revolutionären Kampfes ist, der seinen Sieg und das unvermeidliche Finale seiner fortschreitenden Entwicklung garantieren kann. Aber was die

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