Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 221

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Diesen Spekulanten scheint es, daß kein Boden für den Klassenkampf vorhanden sei, während die Sozialdemokratie keine Initiative, keine Kraft hat, es nicht versteht, die Möglichkeiten, die weiten Perspektiven zu erfassen, die die Geschichte bietet.

Auf dem Höhepunkte der gegenwärtigen Revolution in Rußland soll es keine Möglichkeit geben, den Klassenkampf zu führen, soll es nur geringfügige „Ansatzpunkte“ geben. Alle politischen Forderungen des Proletariats „und sogar die Republik selbst“ – so bemerkt der Redner – seien kein eigentlicher Ausdruck des Klassenkampfes, denn sie stellten nichts spezifisch Proletarisches dar. Aber in diesem Falle – wir berufen uns wiederum auf die Praxis der internationalen Arbeiterbewegung – führen wir in Deutschland bis heute keinen eigentlichen Klassenkampf, denn bekanntlich richtet sich der gesamte politische Kampf der deutschen Sozialdemokratie auf Forderungen des sogenannten Minimalprogramms, das fast ausschließlich demokratische Losungen enthält, wie das allgemeine Wahlrecht und das unbeschränkte Koalitionsrecht usw. Und wir bestehen auf diesen Forderungen gegen die gesamte Bourgeoisie. Aber selbst die ihrer Form nach proletarischen Forderungen, wie die Arbeitsgesetzgebung, stellen bekanntlich nichts spezifisch Sozialistisches dar, sondern sie bringen nur die Forderungen der progressiven kapitalistischen Wirtschaft zum Ausdruck. So ist die Analyse, die den Charakter des Klassenkampfes, der in der gegenwärtigen Revolution unter den politischen Losungen des Proletariats vor sich geht, zugibt, weniger ein Vorbild marxistischen Denkens als vielmehr Ausdruck eines seelischen Zustandes, den man gewöhnlich mit den Worten charakterisiert: Man weiß nicht, wo einem der Kopf steht. Es bedarf wirklich schon einer sehr hartnäckigen Voreingenommenheit für die ausschließlich parlamentarische Form des politischen Kampfes, um gegenwärtig den großen Schwung des Klassenkampfes in Rußland nicht zu sehen, sondern tastend und stolpernd seine schwachen „Ansatzpunkte“ zu suchen, um nicht zu verstehen, daß aber auch alle politischen Losungen der gegenwärtigen Revolution, gerade weil sich die Bourgeoisie von ihnen losgesagt hat oder lossagt, eben solche Äußerungen des Klassenkampfes des Proletariats sind. Am allerwenigsten sollte gerade die russische Sozialdemokratie diese Lage unterschätzen. Es genügt, wenn sie sich selbst, ihre jüngste Geschichte betrachtet, um zu begreifen, welche kolossale erzieherische Bedeutung der Klassenkampf gegenwärtig noch vor jeglichem Parlamentarismus hat. Es genügt, sich daran zu erinnern, was die russische Sozialdemokratie bis 1905, bis zum 9. Januar, war und was sie heute darstellt. Ein halbes Jahr revolutionärer

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